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Günter Kaindlstorfer und Albert Drach

Ratzeputz oder: Das Leben nimmt keine Rücksicht auf uns

Der Kanzleischreiber Gottes: Zum 90. Geburtstag von ALBERT DRACH. Ein Porträt von Günter Kaindlstorfer.

Um Albert Drach ranken sich zahlreiche Anekdoten. Wer dem grimmigen alten Herren jemals zu begegnen die Ehre hatte, mag ihn für einen Griesgram halten, für einen notorischen Querkopf. Albert Drach sieht – im Lande Grillparzers und Thomas Bernhards ist dies keineswegs als Injurie aufzufassen – einem Menschenfeind zum Verwechseln ähnlich.

Ich entsinne mich eines kleinen, würdevollen Festakts im Wiener Rathaus, in dessen Verlauf dem Dichter das "Goldene Ehrenzeichen" der Stadt Wien verliehen wurde. Der Bürgermeister, Zilk hieß er, holte zu einer freundlichen, nicht unzumutbar peinlichen Rede aus, wie sie zu solchen Ereignissen eben üblich ist. Die Beamten des Bürgermeisterbüros hatten routiniert gearbeitet, hatten die wesentlichen Fakten zu Leben und Werk des Geehrten recherchiert. Der Stadtvater, ein Freund der schönen Künste, mühte sich redlich, seiner Laudatio einen persönlichen, auch fachlich kompetenten Anstrich zu geben. Er wies auf das himmelschreiende Unrecht hin, das Albert Drach während der Nazizeit widerfahren ist, er brachte die riskanten Jahre der Emigration zur Sprache, die bitteren Dekaden des öffentlichen Desinteresses, er würdigte die literarischen Leistungen des Laureaten, seine moralische Unerbittlichkeit, seine stilistische und narrative Originalität...

Der solcherart Gelobte wäre indessen nicht Albert Drach gewesen, hätte er den Bürgermeister nicht, ich schätze, ein halbes Dutzend Mal unterbrochen, um ihn zu verbessern, um da und dort auf kleine Fehler, kleine Unstimmigkeiten und Inkorrektheiten hinzuweisen, er wäre des weiteren nicht Albert Drach gewesen, hätte er sich im Verlauf seiner vielleicht fünften Wortmeldung nicht auch lautstark darüber beklagt, daß er, Albert Drach, der Verfasser von "Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum", von "Unsentimentale Reise" und anderer Werke, die dem deutschsprachigen Roman überhaupt erst den Weg in die Weltliteratur geebnet hätten, den dieser ohne ihn, Albert Drach, niemals gefunden hätte, daß er hier nur ein läppisches Ehrenzeichen der Stadt Wien in Empfang nehmen dürfe, während er auf den großen österreichischen Staatspreis für Literatur noch immer warten müsse, weil die Jury, eine Ansammlung von Ignoranten offenbar, sich Jahr für Jahr dazu entschließe, diese Auszeichnung, die einzige übrigens, die seinem, Albert Drachs, Rang auch nur annähernd gemäß sei, weil die Jury sich Jahr für Jahr von neuem darauf verständige, den großen Staatspreis einem weiteren Nichtskönner zuzuschanzen.

Der Lobredner wäre indessen nicht Helmut Zilk gewesen, hätte er den Dichter nach der fünften oder sechsten Unterbrechung nicht mit einem polternden Schmäh in die Schranken gewiesen: "Wissen'S was", donnerte Zilk, "beim nächsten Mal halten Sie sich Ihre Laudatio selber."

Ich entsinne mich des weiteren eines Besuches bei Albert Drach in seinem Mödlinger Gutshof. "Sie sind doch dieser Kritiker", begrüßte mich der Gastgeber bereits an der Pforte, "der einmal geschrieben hat, er wünsche, daß sich meine Bücher besser verkauften?" Ich mußte, mich einer fast schon verjährten Rezension erinnernd, bejahen und hoffte naiverweise, dem dräuenden Strafgericht durch die zutreffende Bemerkung zu entgehen, ich hätte es ja nur gut...

"Mein lieber Herr!", unterbrach mich der Dichter, "wissen Sie denn nicht, daß meine Bücher GLÄNZENDEN Absatz finden?! Daß in Amerika schon DISSERTATIONEN über mich geschrieben werden?!"

Heute weiß ich es.

Im Rückblick erscheint es wie ein Wunder, daß der zürnende Dichter mich nach solchem Fehlverhalten überhaupt noch ins Haus gebeten hat, daß seine Gattin, die ehemalige Operettensängerin Gerty Drach, geborene Rauch, mir ein Schalerl Kaffee kredenzt und der Dichter selbst mich überhaupt noch einer Wortspende für würdig befunden hat. Irgend etwas, vielleicht meine glaubhaft zur Schau gestellte Reumütigkeit, vielleicht meine im Grunde doch recht anständige Arbeit als Drach-Rezensent, irgend etwas hat mich Nichtswürdigen also noch Gnade finden lassen.

Nach dem Kaffee, nach artiger Plauderei über die Tücken der Juristerei und die englische Romankunst des 18. Jahrhunderts, führte mich der Dichter durch endlose Zimmerfluchten ins Herrenzimmer. An die Korridorwände duckte sich, Wälzer an Wälzer, eine imposante Bibliothek von 10.000 Bänden, irgendwo in verborgenen Gemächern, kreischte ein Papagei. Im Arbeitszimmer des Hausherrn nahmen wir schließlich Platz zum Interview.

Was er, Albert Drach, von dem Dramatiker Turrini halte, wollte ich wissen. "Nichts." Ob György Sebestyen, der soeben verblichene PEN-Präsident, ihm sympathisch gewesen sei? "Nein, der Mann war eine Niete, eine vollkommene Niete." Was ihm zu Thomas Bernhard einfalle. "Wenig. Er überragt die Nichtskönner, immerhin, ich würde ihm den dritten oder vierten Rang zuerkennen." Ob er Anton Wildgans, seinem frühen Freund und Förderer, als Literaten Achtung entgegenbringe? "Nein", so Drach, "Wildgans war ein bestenfalls acht-, ein neuntrangiger Dichter." (Später, in der schriftlichen Interview-Fassung, mußte ich diese Einschätzung auf "kein bedeutender Dichter" ausbessern.)

Im persönlichen Umgang erweist sich Albert Drach, der streitbare Jurist, als schwieriger Fall, wie allgemein und übereinstimmend berichtet wird. Für die Literatur sind seine, sagen wir einmal, originellen Charaktereigenschaften freilich ein Glücksfall. Ich kenne keinen Autor, der alle Sentiments, alle falsche Schönfärberei so radikal, so ratzeputz aus seinem Werk verbannt hätte wie er. In der "Unsentimentalen Reise", in "Z.Z. Das ist die Zwischenzeit", in der "Untersuchung an Mädeln", im "Großen Protokoll gegen Zwetschkenbaum", in allen seinen Arbeiten erweist sich Drach als mitleidloser, als abgrundtief zynischer Chronist eines mitleidlosen und abgrundtief zynischen Jahrhunderts.

Seine ureigenste Erfindung ist der "Protokollstil", ein sonderbares Gemisch aus Justiz- und Dichtersprache, ein umständliches Idiom mit spröder Musikalität, das man, wie der Dichter mit martialischem Tonfall klargestellt wissen möchte, keinesfalls mit Herzmanovsky-Orlandos harmlosem "Kanzleistil" verwechseln darf.

"Ich bediene mich eines Stils", erläutert Drach, "in dem das Leben gegen den Menschen schreibt. Das Leben nimmt keine Rücksicht auf uns, es schreibt in gleicher Weise hart gegen alle. Auf diese Weise muß auch der Roman verfahren. Die Deutschen haben ja bis heute keinen anständigen Roman zustandegebracht, weil sie von ihrer Gefühlsduselei nicht absehen können. Wie sollen die Deutschen mit ihrer penetranten Rührseligkeit einen anständigen Roman zustandebringen?"

Man hat zu Recht darauf hingewiesen, daß Albert Drachs Protokollstil die herrschende Sprache als Herrschaftssprache demaskiert. Wer Drach indes auf die Rolle des bloßen Gesellschaftskritikers reduzieren möchte, greift zu kurz. Was Drach so schneidend attackiert, sind nicht die "Verhältnisse", es ist die menschliche Existenz in ihrer Gesamtheit. Albert Drach ist kein Gesellschafts- er ist ein Existenzkritiker. Im bitterbösen Kosmos seiner epischen Anklageschriften gibt es kein Subjekt. Der Mensch ist dunklen, dubiosen und vor allem durch und durch banalen Kräften unterworfen, von denen er keine Kenntnis hat, deren Motive er nicht versteht und von denen er nur eines mit Sicherheit und völlig zu Recht annehmen kann: daß sie sein Schlechtestes wollen.

Auf die Spitze getrieben hat Albert Drach diese schwarze Poetik in einer kleinen, ganz und gar zynischen, fast schon geschmacklosen Erzählung, die soeben im Hanser-Verlag erschienen ist. "Ia" heißt diese Perle des schwarzen Humors – nicht ohne Hintersinn dem Ruf des Esels nachempfunden. Es geht um die virtuelle Vergewaltigung eines weiblichen Säuglings durch 16 Vertreter der österreichischen Greisenschaft. Scharfer, nein, schärfster Tobak.

Man könnte sich Gott nach der Lektüre der Drachschen Bücher als k. u. k. Ministerialrat vorstellen, fleißig, penibel und geistig ein bisserl beschränkt – ein ordnungsliebender Familienvater, ein pflichtversessener Bürokrat, der mit gnadenloser Perfektion Katastrophe auf Katastrophe organisiert. Albert Drach, der Jurist aus Mödling, ist sein Kanzleischreiber.

ERSCHIENEN in "DIe Presse" am 12. Dezember 1992
 



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