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Alice Miller: DIE REVOLTE DES KÖRPERS
Suhrkamp Verlag (2004), 208 Seiten, ISBN: 3518416138.

Alice Miller: Die Revolte des Körpers

Rezension von Günter Kaindlstorfer

Es ist nicht einfach mit Alice Miller. Hunderttausende haben in ihren Bestsellern Erklärungsmuster für ihr eigenes, oft lange verleugnetes Unglück erkannt, die Fachwelt allerdings rümpft schon seit längerem die Nase über die Schweizer Therapeutin, die in den frühen achtziger Jahren mit Verkaufshits wie "Das Drama des begabten Kindes" und "Du sollst nicht merken" die Bestsellerlisten dominiert hat. Alice Miller gilt vielen als Terrible Simplificatrice, als "schreckliche Vereinfacherin", ihre Thesen werden von Psychoanalytikern und anderen Gralshütern der reinen Lehre als "unterkomplex" abgetan. Wenn man Millers neues Buch liest, weiß man auch, warum. "Die Revolte des Körpers" hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck. Es gibt starke und schlüssige, es gibt aber auch penetrante, ja, nachgerade peinliche Passagen in diesem Buch. "Die Revolte des Körpers" kommt als Frontalangriff auf das vierte Gebot daher: "Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden", so fordert die Heilige Schrift.

Humbug, findet Alice Miller: Das vierte Gebot sei nichts als ein ideologisches Konstrukt, ein Herrschafts-Ideologem im Dienste der schwarzen Pädagogik. Millionen Kinder würden von ihren Eltern mißhandelt, mißbraucht und in ihren Bedürfnissen mißachtet, diagnostiziert Alice Miller; viele Therapeuten forderten ihre Patienten zu falscher Versöhnlichkeit mit den lieblosen Eltern von einst auf, kritisiert Miller, anstatt die einstmals mißhandelten Kinder zu ermuntern, ihrem Schmerz und seiner Ursprungsgeschichte illusionslos ins Auge zu blicken. Eine Praxis, die Alice Miller gar nicht genug geißeln kann! Abneigung und Haß gegen nicht-liebende Eltern seien legitime Gefühle, postuliert die Autorin. Alice Miller spricht auch von sich selbst in ihrem Buch, von ihrer eigenen, von Gefühlskälte und eisigem Pflicht-Ethos geprägten Kindheit.

Zitat:
"Ich schulde meinen Eltern keine Dankbarkeit für meine Existenz, weil sie diese gar nicht wollten. Die Ehe wurde ihnen von den beiderseitigen Eltern aufgezwungen. Ich wurde lieblos von zwei braven Kindern gezeugt, die ihren Eltern Gehorsam schuldeten und ein Kind zur Welt brachten, das sie gar nicht wollten, und wenn doch, dann einen Jungen für den Großvater. Sie bekamen indes eine Tochter, die jahrzehntelang versuchte, all ihre Fähigkeiten einzusetzen, um ihre Eltern schließlich glücklich zu machen, eigentlich ein hoffnungsloses Unterfangen. Aber als Kind, das überleben wollte, hatte ich keine Wahl, als mich anzustrengen. Von Anfang an erhielt ich den impliziten Auftrag, meinen Eltern die Anerkennung, Aufmerksamkeit zu Liebe zu geben, die ihnen die Großeltern vorenthalten hatten."

Wie so viele Kinder ist auch Alice Miller von ihren Eltern "parentifiziert" worden. Das heißt: Vater und Mutter haben ihr emotionale Aufgaben aufgebürdet, die eigentlich sie selbst hätten erfüllen müssen; sie haben dem Kind die Elternrolle aufgedrängt. Eines der Resultate: Die Autorin vermag ihren, bereits verstorbenen, Eltern bis heute keine Liebesgefühle entgegenzubringen, obwohl sie das als brave Tochter doch tun müßte.

Zitat:
"Es dauerte lange, bis ich mir das Recht zugestand, meine Eltern nicht zu lieben. Ich merkte mit der Zeit immer deutlicher, wie mich die Anstrengung, jemanden zu lieben, der mein Leben stark beeinträchtigt hatte, zutiefst schädigte. Weil sie mich von meiner Wahrheit wegführte, zum Selbstbetrug zwang, zu einer Rolle, die man mir so früh aufgezwungen hat: die Rolle des braven Mädchens."

Die Liebe des ehedem mißhandelten Kinds zu seinen Eltern ist keine Liebe, meint Alice Miller. Es ist eine mit Illusionen behaftete Bindung – ein gravierender Unterschied. Allerdings: Befreiung ist möglich, wenn man nur den Mut hat, der Wahrheit ins Auge zu sehen.

Zitat:
"Wir müssen erkennen, daß wir den Eltern, die uns mißhandelt haben, keine Dankbarkeit schulden und schon gar keine Opfer. Diese brachten wir ja nur den Phantomen, den idealisierten Eltern, die ja gar nicht existierten. Weshalb fahren wir fort, uns für Phantome zu opfern? Weil wir hoffen, daß sich dies eines Tages ändern wird, wenn wir nur das richtige Wort finden, die richtige Haltung einnehmen, das richtige Verständnis aufbringen."

Eine Hoffnung, die sich in der Regel nicht erfüllt. Alice Miller plädiert für einen realistischen Blick auf die Dinge – auch in der Beziehung zu den Eltern.

Zitat:
"Es ist nicht entscheidend, ob man den Kontakt mit den Eltern ganz abbrechen muß oder nicht. Der Ablösungsprozeß, der Weg vom Kind zum Erwachsenen, vollzieht sich ja im Inneren des Menschen. Manchmal ist der Abbruch jeglicher Kontakte das einzig Mögliche, um den eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden. Wenn aber Kontakte noch sinnvoll erscheinen, dann nur, nachdem man bei sich abgeklärt hat, was man erträgt und was nicht."

In ihrer therapeutischen Praxis seien ihr aber auch Fälle untergekommen, berichtet Alice Miller in ihrem Buch, in denen eine neue Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern möglich wurde.

Zitat:
"Eine junge Frau, die sich lange mit ihren Haßgefühlen gequält hat, sagte schließlich mit Angst und Herzklopfen zu ihrer Mutter: \'Ich mochte diese Mutter nicht, die du für mich gewesen bist, als ich Kind war, ich haßte dich und durfte es nicht einmal wissen.\' Die Frau war erstaunt, daß nicht nur sie selbst, sondern auch ihre schuldbewußte Mutter mit Erleichterung auf diese Mitteilung reagierte. Denn im stillen wußten sie ja beide, wie sie sich fühlten, aber jetzt war die Wahrheit endlich ausgesprochen. Von nun an konnte eine ganz neue, ehrliche Beziehung aufgebaut werden."

Die Wahrheit läßt sich eben nicht verleugnen. Versucht man es dennoch, verschafft sie sich indirekt Ausdruck: durch Krankheiten und physische Bresthaftigkeiten aller Art. "Der Körper als Hüter der Wahrheit", so nennt Alice Miller das. Im ersten, im ärgerlicheren Teil ihres Buchs bringt die Schweizer Therapeutin Beispiele aus dem Leben großer Künstler, die ihre These illustrieren sollen. Was an diesen Vignetten aus dem Leben Kafkas, Nietzsches oder Prousts so nervt, ist der sendungsbewußte Ton: Alice Miller tut, als sei sie die Erste und Einzige, die bestimmte Dinge erkennt und ausspricht, dabei sind es oft Gemeinplätze, die sie verkündet: daß Nietzsche ein geknechtetes Kind war, daß Virginia Woolf als Mädchen sexuell mißbraucht wurde, daß sich Kafkas Unglück seinem totalitären Vater verdankt, das alles hat man tausend Mal schon gelesen, auch in früheren Büchern von Alice Miller. Prousts Asthma als Folge der erstickenden mütterlichen Over-Protection – auch das eine keineswegs neue Einsicht, nachzuschlagen etwa in Alain de Bottons Proust-Brevier aus dem Jahr 1997.

Aber auch der Dichter der "Recherche" selbst hat das erkannt. Im März 1903 schreibt Proust an an seine Mutter: "Denn lieber will ich Anfälle haben und Dir gefallen, als dir mißfallen und keine haben." So weit, so wohlbekannt. Ihrem Ruf als gnadenlose Simplifiziererin vollends gerecht wird Alice Miller aber mit den einfachen Analogieschlüssen, die sie zieht. Sie gehorchen stets dem gleichen Muster: Hat jemand Augenprobleme wie Joyce, will er etwas nicht sehen, ein Epileptiker wie Dostojewski wird mit seinen traumatischen Kindheitserfahrungen nicht fertig, Freuds Gaumenkrebs deutet darauf hin, daß der Ahnvater der Psychoanalyse ein paar fundamentale Wahrheiten nicht aussprechen wollte. In Alice Millers Welt geht\'s einfach zu. Zu einfach.

Buchhinweis:
Alice Miller: DIE REVOLTE DES KÖRPERS
Suhrkamp Verlag (2004), 208 Seiten, ISBN: 3518416138.



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