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Stefan Müller-Doohm: ADORNO
Biographie, Suhrkamp Verlag (2003), 1032 Seiten, ISBN: 3518583786

Stefan Müller-Doohm: Adorno

Eine Biographie
Von Günter Kaindlstorfer


Diese Biographie wird Standards setzen. Stefan Müller-Doohm macht Leben und Werk Theodor W. Adornos auf 1032 Seiten gewissermaßen im Cinemascope-Format lebendig. Die Vita des genialen Philosophen wird in anschaulicher Weise nachgezeichnet ­ von den behüteten Kinderjahren am Frankfurter Mainufer bis zu den Turbulenzen der späten 60er-Jahre, in denen Adorno als Präzeptor der linken Intelligenz in Deutschland gefeiert und bekämpft wurde. Stefan Müller-Doohm hat einst selbst als junger Soziologe bei Adorno studiert. Der 61jährige erinnert sich noch genau an das Klima im legendären Hörsaal VI der Frankfurter Universität, wo Adorno seine Vorlesungen zu halten pflegte.

OT Müller-Doohm: "Adorno war ein Kulturphänomen. Man ging zu Adorno, wenn man intellektuell was auf sich hielt. Er hielt seine Vorlesungen frei... Er hat keine fertigen... präsentieren. Bei ihm konnte man beim Denken zusehen. Man konnte gewissermaßen lernen, wie Denken sich vollziehen kann, philosophisches Denken, philosophische Reflexion."

OT Adorno: "Es sieht so aus, daß der Begriff der Anarchie bei Marx... als für sie Zufälliges erfahren."

Adorno war ein scharfer, ein unerbittlicher Analytiker der verwalteten Welt. Daß die Moderne nicht nur eine Erlösungs- sondern auch eine unausgesetzte Unterdrückungsgeschichte ist, hat er gemeinsam mit seinem philosophischen Kompagnon Max Horkheimer aufs eindrucksvollste herausgearbeitet – nicht nur in der berühmten "Dialektik der Aufklärung", auch in anderen Schriften. Daß die Welt, so wie sie nun einmal eingerichtet ist, nicht die beste aller Welten sei, auf dieser Einsicht hat Adorno zeitlebens beharrt.

OT Adorno: "Wir sind uns darüber einig, daß die Menschen heute in einem Maß, wie es noch nicht dagewesen ist, von den Institutionen, und daß heißt in erster Linie von der Wirtschaft... abhängig ist. Sie stehen den Menschen gegenüber in einer Art Fatalität, deren sie sich kaum erwehren können."

Adorno war ein unversöhnlicher Kritiker der modernen Kulturindustrie. Daß Popkultur und Schlagermusik, daß Fernsehen und Boulevardpresse, daß die ganze unentwegt vor sich hin trällernde und plappernde Unterhaltungsindustrie im Grunde keinen anderen Zweck verfolgte als den, die Massen zu verdummen und zu infantilisieren, schien ihm, dem Anhänger Schönbergs und Alban Bergs, eine ausgemachte Sache.

Auch gegen den Jazz hat Adorno so manche Attacke geritten – gegen den Widerstand seiner Studenten, wie sich Stefan Müller-Doohm erinnert:

OT Müller-Doohm: "Wir haben den Jazz gegen Adorno verteidigt. Wir waren der Auffassung, daß Charlie Parker, Miles Davies, Theolonious Monk Avantgarde-Musik gemacht haben. Wobei man sehen muß, daß Adorno wenig Kontakt hatte, den Bebop kannte er überhaupt nicht. Er bezog sich eher auf Benny Goodman, es war da sehr schwer mit ihm Kirschen essen."

Obgleich ein vehementer Kritiker des Fernsehens, bediente sich Adorno dieses Mediums immer wieder – auch um jazz-kritische Sottisen vom Stapel zu lassen.

OT Adorno: "Jazz hat mit Kunst überhaupt nichts zu tun, und das Bestürzende ist, daß man diese reine Unterhaltungssphäre... Ich bin gar kein Feind des Jazz... Daß mir ungarische Schnulzen dann sogar noch lieber sind, ist meine Privatsache."

Die Brüche und Widersprüche im Leben Adornos – Stefan Müller-Doohm thematsiert sie auf informative und instruktive Weise. Der Oldenburger Soziologe hat eine nachgerade mustergültige Biographie vorgelegt. Adornos Schriften, seine Analyse des autoritären Charakters, die "Minima Moralia", die soziologischen und kulturtheoretischen Arbeiten, die "Negative Dialektik" und nicht zuletzt die "Ästhetische Theorie" – all diese Texte werden in einer auch für den Adorno-Novizen nachvollziehbaren Art und Weise zusammengefaßt und reflektiert. Streckenweise amüsant lesen sich Müller-Doohms Auslassungen über den Adornoschen Alltag: Wir erfahren, daß der Philosoph ein fast schon kindliches Faible für Tierparks hatte, daß er den Frankfurter Zoodirektor Bernhard Grzimek in seinem Kampf gegen Großwildjagd und Umweltzerstörung unterstützte, daß er, wie auch seine Frau Gretel, ein glühender Fan der Fernseh-Serie "Daktari" war. Vor allem Clarence, der schielende Löwe, scheint es Adorno angetan zu haben. Man dürfe sich den Philosophen keineswegs als humorlosen Asketen vorstellen, betont Stefan Müller-Doohm. Im Gegenteil, Adorno war im täglichen Leben vor allem auch ein beherzter Erotiker. Seiner Frau Gretel war der Mitbegründer der Kritischen Theorie in inniger Liebe zugetan – was ihn allerdings nicht daran hinderte, sich auch im vorgerückten Alter noch in ausufernde Liebesabenteuer zu stürzen.

OT Müller-Doohm: "Ja, er war gegenüber Frauen leicht entflammbar, er liebte das weibliche Geschlecht. Bis ins hohe Alter hinein war er dem Flirt gegenüber offen, und er praktizierte den Flirt auch. ... als Inspirationsquelle... hat er sich immer wieder eingelassen auf Frauenbeziehungen... daß diese Liebschaften integriert wurden in die Beziehung zu Gretel."

Adorno und die 68er – ein pikantes Kapitel. Auf der einen Seite hat der bedeutendste Theoretiker der Frankfurter Schule eine ganze Generation von deutschen Nachkriegsintellektuellen zum kritischen Denken inspiriert und ermuntert, auf der anderen Seite ist Adorno von den rebellischen Studenten selbst als Teil des Establishments wahrgenommen und zuletzt auch bekämpft worden. Der Autor der "Negativen Dialektik" stand den revoltierenden Studenten in kritischer Distanz gegenüber. Adorno glaubte nicht an die militanten Phrasen des SDS, er glaubte auch nicht an die angeblich unmittelbar bevorstehende Revolution in Deutschland, er glaubte vor allem nicht an die Protestkultur der 68er.

OT Adorno: "Ich glaube allerdings, daß Versuche, die politischen Protest mit der Popular Music zusammenzubringen, zum Scheitern verurteilt sind... Popmusik mit dem Warencharakter, mit dem Schielen nach Konsum verbunden... Wenn sich irgendjemand hinstellt und mit schnulzenhafter Musik auszudrücken versucht, daß gerade Vietnam nicht zu ertragen ist, dann ist gerade diese Musik nicht zu ertragen... so etwas wie Konsumqualitäten herauspresst."

Adornos Kritik der Massenkultur – die Postmoderne scheint die Vorbehalte der Frankfurter Schule gründlich vom Tisch gewischt zu haben. Die Vermischung von U und E – für Adorno ein Gräuel – ist heute fast schon Common Sense. Stefan Müller-Doohm hält Adornos Kritik an der Kulturindustrie dennoch für hochaktuell.

OT Müller-Doohm: "Würde ich nicht so sehen. Im Gegenteil: Es gibt ja in der Tat immer mehr Massenkultur als Kommerz... Multimedienkonzernen... Berlusconi... ist die Kritik von Adorno hochaktuell. Wir sollten daran festhalten und nicht gewissermaßen die Augen davor verschließen."

Eine "offiziöse Chronik ohne Esprit", nennt der "Spiegel" Stephan Müller-Doohms Adorno-Biographie. Ein krasses Fehlurteil. Der Oldenburger Soziologe hat ein sachliches, ein wohltuend unaufgeregtes Buch vorgelegt, unprätentiös, vorurteilsfrei, seinem Gegenstand auf jeder Seite gewachsen. Nicht mehr und nicht weniger darf man sich von einer Biographie erwarten.


Buchhinweis:
Stefan Müller-Doohm: ADORNO
Biographie, Suhrkamp Verlag (2003), 1032 Seiten, ISBN: 3518583786.



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