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Susan Sontag: DAS LEIDEN ANDERER BETRACHTEN
Hanser Verlag (2003), 144 Seiten, ISBN: 3446203966

Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten

Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser
Rezension von Günter Kaindlstorfer


In ihrer berühmten Essaysammlung "Über Fotografie" aus dem Jahr 1977 beschreibt Susan Sontag eine "persönliche Urszene". Im Juli 1945 stößt sie in einer Buchhandlung in Santa Monica zufällig auf Fotografien aus den befreiten Konzentrationslagern von Dachau und Bergen-Belsen. Susan Sontag, damals zwölf Jahre alt, ist zutiefst schockiert.

Zitat:
"Nichts, was ich jemals gesehen habe – ob auf Fotos oder in der Realität – hat mich so jäh, so tief, so unmittelbar getroffen. Und seither erschien es mir ganz selbstverständlich, mein Leben in zwei Abschnitte einzuteilen: in die Zeit, bevor ich diese Fotos sah – und in die Zeit danach."

"Das Leiden anderer betrachten" ist die Fortsetzung der berühmten Sontagschen Foto-Essays aus den siebziger Jahren. Dabei nimmt die New Yorker Autorin eine bemerkenswerte Akzentverschiebung vor, man könnte auch sagen: eine kritische Revision ihrer damaligen Ansichten. Stand in den Untersuchungen der 70er-Jahre das manipulative Potential der Fotografie im Vordergrund, der inflationäre und notwendig abstumpfend sich auswirkende Gebrauch, den die modernen Massenmedien von Bildern und Fotos machen, mit einem Wort: ging Susan Sontag vor zweieinhalb Jahrzehnten eher kritisch mit den Möglichkeiten des Mediums ins Gericht, betont sie heute die aufklärerischen Potentiale der Fotografie. Ein Beispiel: "Kriege, von denen es keine Fotos gibt, werden vergessen", schreibt sie. Trotzdem, Susan Sontag ist weit davon entfernt, die Möglichkeiten des Mediums unkritisch zu bewerten. Die Drastik der modernen Kriegs- und Katastrophenfotografie hat in ihren Augen durchaus problematische Seiten. Bombenanschläge und Massaker aller Art sind heute ja fester Bestandteil des abendlichen Pantoffelkinos. Ob wir wollen oder nicht: Grauenhaftigkeiten und Brutalitäten aller Art werden uns von tollkühnen Kameramännern und reaktionsschnellen Vor-Ort-Journalisten abend für abend frei Haus geliefert. Sontag schreibt:

Zitat:
"Zuschauer bei Katastrophen sein, die sich in einem anderen Land ereignen, ist eine durch und durch moderne Erfahrung... Kriege, das sind inzwischen auch Bilder und Töne, die uns im Wohnzimmer erreichen. \\\'If it bleeds, it leads\\\', lautet seit jeher die Faustregel der Massenpresse und der Nachrichtenkanäle: Blut zieht immer."

Blut zieht immer, das wußte auch der englische Philosoph Edmund Burke, der 1757 die scharfsichtigen Sätze notierte: "Ich bin überzeugt, daß wir ein gewisses Maß an Entzücken, und zwar kein geringes, angesichts der Mißgeschicke und Leiden anderer empfinden." Burke hatte recht, schließlich man muß sich auch heute fragen: Warum füllen die Fernsehsender ihre Programme unaufhörlich mit Berichten über Naturkatastrophen und Morde, über Terrorattacken, Eifersuchtsskandale, tödliche Epidemien? Susan Sontag versucht eine Antwort: Weil die Liebe zum Unheil dem Menschen genauso eingeschrieben ist wie die Fähigkeit zum Mitleid. Wir alle sind Voyeure des Grauens, darüber macht sich Sontag keine Illusionen. Aber welche Schlüsse zieht sie daraus? Schwer zu sagen: Eine klare, griffige These formuliert die US-amerikanische Essayistin in ihrem Buch nicht. Der 150-Seiten-Band bietet lockere und ziemlich unsystematische Betrachtungen zum Thema Fotografie, mal banal, mal brillant, mal erhellend, dann wieder altbekannt. Susan Sontag geht weit zurück in die Kunstgeschichte, zu Leonardo da Vinci, zu Goya und anderen Künstlern, die sich mit der Darstellung des Krieges beschäftigt haben – bis hin zu den fotografischen Frontberichterstattern des Krimkriegs und des amerikanischen Bürgerkriegs.

Schon Leonardo da Vinci hat – vor mehr als 500 Jahren – gefordert: Ein Schlachtengemälde müsse vor allem Entsetzen hervorrufen. Eine Forderung, der sich wohl auch kritische Kriegsberichterstatter unserer Tage anschließen würden. Aber Vorsicht: Es gibt auch so etwas wie eine Routine des Entsetzens – auch die aufrüttelndsten Fotoreportagen, auch die grausigsten Dokumentarszenen im Fernsehen verlieren nach der hundersten Wiederholung ihren Schock- und Appellcharakter. Wer den Fernsehapparat am zwölften oder dreizehnten September 2001 entnervt ausgeschaltet hat, weil auf dem Bildschirm gerade wieder eine Boeing 767 ins World Trade Center geflogen ist, weiß, wovon die Rede ist. Bei den KZ-Fotos aus Dachau und Bergen-Belsen mag das anders sein – sie vermögen auch heute noch zu schockieren, wie Susan Sontag einräumt. Trotzdem: Die US-amerikanische Autorin warnt davor, die Möglichkeiten des Mediums Fotografie zu überschätzen:

Zitat:
"Quälende Fotos verlieren nicht unbedingt ihre Kraft zu schockieren. Aber wenn es darum geht, etwas zu begreifen, helfen sie kaum weiter. Erzählungen können uns etwas verständlich machen. Fotos tun etwas anderes: sie suchen uns heim und lassen uns nicht mehr los. Nehmen wir eines der unvergeßlichen Bilder aus dem Krieg in Bosnien, ein Foto, über das John Kifner, ein Auslandskorrespondent der \\\'New York Times\\\', schrieb: \\\'Das Bild ist vollkommen nüchtern, eines der eindringlichsten aus den Balkankriegen: ein Angehöriger der serbischen Miliz versetzt einer sterbenden muslimischen Frau im Vorübergehen einen Tritt gegen den Kopf. Das sagt einem alles, was man wissen muß.\\\' John Kifner irrt. Selbstverständlich sagt uns dieses Bild nicht alles, was man wissen muß."

Auf keinen Fall dürfe man sich der Suggestiv- und Sogkraft solcher Fotos kritiklos überlassen, fordert Susan Sontag. Ohne solide Recherche, ohne die Kenntnis von Daten und Fakten und vor allem: ohne kritische Analyse bleiben der Manipulation Tür und Tor geöffnet.

Zitat:
"Jedes Foto wartet auf eine Bildlegende, die es erklärt – oder fälscht. Während der Kämpfe zwischen Serben und Kroaten zu Beginn der jüngsten Balkankriege wurden von der serbischen und der kroatischen Propaganda die gleichen Fotos von Kindern verteilt, die bei der Beschießung eines Dorfes getötet worden waren. Man brauchte nur die Bildlegende zu verändern, und schon ließ sich der Tod dieser Kinder so und anders nutzen."

Auch wenn Mißtrauen grundsätzlich angebracht ist: Aufrüttelnde Film- und Fotoberichte haben vor allem in der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahhrunderts häufig dazu beigetragen, Kriege zu beenden und menschliches Leid zu mildern, ob in Vietnam oder Bosnien, in Ruanda, Mocambique oder Biafra. Das erkennt Susan Sontag ausdrücklich an. Trotzdem postuliert die New Yorker Autorin den Primat des Texts. Jedes Bild entstehe schließlich in einem bestimmten sozialen und politischen Kontext. Diesen Kontext aufzudecken – das vermag nur die Erzählung, die kritische Analyse. In diesem Licht läßt sich wohl auch verstehen, warum Susan Sontag Schriftstellerin geworden ist, nicht Fotografin.


Buchhinweis:
Susan Sontag: DAS LEIDEN ANDERER BETRACHTEN
Hanser Verlag (2003), 144 Seiten, ISBN: 3446203966.



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