Peter Englund: „Schönheit und Schrecken – Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen“, Rowohlt, 696 Seiten.
Peter Englund: Schönheit und Schrecken
Aus dem Schwedischen von Wolfgang ButtRezension von Günter Kaindlstorfer
Was für ein bodenloser Schock der Erste Weltkrieg für die Zeitgenossen gewesen sein muß: In Peter Englunds packender Historiencollage wird das noch einmal auf aufrüttelnde Weise deutlich. Neunzehn Männer und Frauen lässt der schwedische Historiker in seinem Buch zu Wort kommen: ein deutsches Schulmädchen, einen ungarischen Kavalleristen, einen belgischen Kampfflieger, eine englische Krankenschwester, einen südamerikanischen Kavalleristen in osmanischen Diensten, einen amerikanischen Feldchirurgen, einen australischen Pionier, der schließlich in der Schlacht von Gallipolli fällt, als einer von 250.000 Toten.
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„Dies ist ein Stück Anti-Geschichte insofern, als ich versucht habe, das in jeder Hinsicht epochale Geschehen auf seinen kleinsten Bestandteil zurückzuführen, nämlich den einzelnen Menschen und sein Erleben.“
Peter Englunds Hauptaugenmerk richtet sich auf den Alltag des Kriegs – und auf die unteren Chargen. Wie Walter Kempowski in seinem gigantomanischen „Echolot“-Projekt ermöglicht auch der penibel recherchierende Schwede seinem Publikum einen Panoramablick auf das mörderische Geschehen des Kriegs, diesfalls des Ersten Weltkriegs. Anders als Kempowski, der eine reine O-Ton-Collage zusammengestellt hat, berichtet Englund auch in Er-Form von seinen Protagonisten, wobei er sich mit moralisierenden Kommentaren wohltuend zurückhält.
Englunds Weltkriegs-Panorama beginnt, wie sollte es anders sein, im August 1914, als halb Europa erfüllt war von Trommelklang und Stiefelklappern, als Millionen Rekruten an die Fronten eilten, Astern und Levkojen in den Gewehrläufen. Wenige Seiten später wandelt sich das Bild: Wir stapfen mit dem ungarischen Kavalleriesoldaten Pal Kelemen über vereiste Karpatenpässe, wo sich die k.und.k-Armee mit den russischen Truppen in erbitterten Kämpfen aufreibt. Wir stampfen mit dem deutschen Schiffsmatrosen Richard Stumpf auf der SMS „Helgoland“ über schwere See. Wir fiebern mit dem 12jährigen Schulmädchen Elfriede Kuhr im westpreußischen Städtchen Schneidemühl den neuesten Front-Nachrichten entgegen. Und wir glauben den Gestank des Militärkrankenhauses von Udine zu atmen, wo der italo-amerikanische Infanterist Vincenzo d’Aquila die letzte Ölung in Empfang nimmt.
Der italienische Gebirgsjäger Paolo Monelli wiederum beginnt wenige Wochen später in den Dolomiten gegen die verhassten Österreicher zu kämpfen. Rasch weicht das Freiheitspathos des italienischen Patrioten der Desillusionierung des Frontsoldaten.
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„Das ist der Krieg. Nicht die Gefahr zu sterben, nicht das rote Feuerwerk der Granaten, die blind machen, wenn sie mit einem Heulen herunterkommen und einschlagen, sondern das Gefühl, eine Marionette in den Händen eines unbekannten Puppenspielers zu sein, und dieses Gefühl lässt zuweilen das Herz erkalten, als habe der Tod schon zugegriffen.“
Während Paolo Monelli im Mai 1916 mit seinem Alpinisti-Bataillon den vorrückenden Österreichern weichen muß, hält der französische Infanterist René Arnaud mit seiner Einheit die Höhe 321 vor Verdun. Nach zehntägigen Kampfeinsatz in der Hölle Verduns darf Arnaud mit seinem Bataillon dann endlich zurück in die Etappe. Bevor sie ins sichere Hinterland abziehen, müssen Arnauds Kameraden noch die Gefallenen der letzten Tage einsammeln.
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„Im Schein der Signalraketen verrichten die Soldaten murrend ihre Arbeit. Körper um Körper wird auf ein Stück Persenning gehoben, das als behelfsmäßige Bahre dient, und dann zu einem improvisierten Grab geschleppt. Obwohl die Leichen schon „im Zerfall begriffen sind“, erkennen sie jeden Einzelnen von ihnen: Bérard (wie so viele andere vom Beschuss eines deutschen Maschinengewehrs getötet, das ihre Stellung in Längsrichtung bestrichen hatte), Bonheure (der Melder, der den Wein so liebte), Mafieu (der Koch, der zur Strafe für ,Trunkenheit im Dienst’ zum Fußsoldaten degradiert wurde), ...., Jaud (der Korporal mit den sanften Kinderaugen und dem grässlichen Bart), Ollivier (der tapfere, pflichttreue, kleine Ollivier mit seinem glatten, blonden Haar) undsoweiter undsoweiter.
Die Junitage waren warm. Der Verwesungsgestank kommt in Wellen, während die Leichen aufgehoben und fortgetragen werden. Dann und wann müssen sie eine Pause einlegen und frische Luft atmen.“
Während vor Verdun insgesamt 320.000 Soldaten ihr Leben verlieren, deutsche wie französische, tut die britische Krankenschwester Florence Farmborough Dienst in der Armee des Zaren. In einem Lazarett in Bohacz pflegt sie verwundete Russen. Einer ihrer Patienten, ein junger Mann, fast ein Kind noch, ist voller Schmutz und getrocknetem Blut. Florence Farmborough will sein Gesicht waschen.
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„Schwesterchen“, sagte mein Patient und versuchte zu lächeln: „Schwesterchen, lassen Sie den Schmutz drauf! Ich werde keine Besuche mehr machen!“ Zuerst dachte ich, er mache Scherze. Ich hatte schon eine schlagfertige Antwort parat. Da sah ich die tiefe Wunde an seinem Kopf und begriff, was er meinte.“
Es sind Hieronymus-Bosch-artige Szenen, die Peter Englund da vor uns ausbreitet. Der Erste Weltkrieg: ein Pandämonium der Qualen, in dem die Kaiserreiche Deutschlands und Österreich-Ungarns schließlich ebenso untergingen wie das osmanische Sultanat, und das doch nur das Präludium war zu einer noch viel größeren Katastrophe, die der fanatisierte Weltkriegs-Loser Adolf Hitler zwanzig Jahre nach den Verträgen von Versailles und Saint-Germain vom Zaune brach.
Denn der Erste Weltkrieg war mit dem Kriegsende natürlich nicht vorbei. Millionen Krüppel und Traumatisierte bevölkerten das geschundene Europa. Allerorten grassierten Kriegsneurosen. Englund zitiert einen Weltkriegsteilnehmer aus den USA:
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„Das Schlimmste im Moment sind die Träume – eigentlich sind es nicht mal Träume, denn mitten in einem normalen Gespräch kann mit großer Deutlichkeit das Gesicht eines Deutschen vor mir auftauchen, den ich mit dem Bajonett niedergestochen habe, und ich höre das entsetzliche Gurgeln und sehe das verzerrte Gesicht. Oder ich sehe den Mann, den einer unserer Männer durch einen Schlag in den Nacken mit einer großen Machete enthauptet hatte. Bevor der Mann fiel, sprudelte das Blut hoch in die Luft.“
Peter Englund hat ein aufwühlendes Buch vorgelegt, ein Buch, das man Europas neuen Nationalisten – von Antwerpen bis Budapest – zum Zwangsstudium aufs Nachtkästchen legen möchte.
Gesendet in der Sendung "Kontext", Ö1, September 2011
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