Suche:
zurück zur Übersicht
Ian Kershaw, Das Ende

Ian Kershaw: Das Ende

Aus dem Englischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber und Martin Pfeiffer.

Rezension von Günter Kaindlstorfer


Der Krieg war verloren – daran konnte im Jänner 1945 niemand mehr zweifeln in Deutschland. Die allierten Truppen hatten das Rheinland erobert, im Osten stand die Rote Armee achtzig Kilometer vor Berlin. Warum, so fragt Ian Kershaw in seinem Buch, warum haben Millionen deutsche Soldaten bis zum Schluß erbittert gekämpft, obwohl die heraufdräuende Niederlage doch für jeden ersichtlich war? Warum hat die deutsche Zivilverwaltung auch in der apokalyptischen Schlußphase des Kriegs noch relativ effizient gearbeitet?

OT Ian Kershaw:
„Die Bürokratie hat bis zum Schluß funktioniert. Die Leute wurden mit Lebensmitteln versorgt. Die Lieferung von Munition und Waffen an die Truppe hat funktioniert. Das waren alle Anzeichen für einen modernen Staat. Wenn der Staat weniger modern gewesen wäre, hätte es natürlich nicht so gut funktioniert. Aber das Erstaunliche ist, daß so viel noch funktionieren konnte.“

Kershaw bringt in seinem Buch noch andere verblüffende Beispiele für das Funktionieren der deutschen Zivilverwaltung. Bis in den April 1945 hinein wurden ordnungsgemäß Löhne und Gehälter bezahlt im Dritten Reich. Vier Tage vor Beginn des sowjetischen Angriffs auf die Reichshauptstadt gaben die „Berliner Philharmoniker“ noch ein Konzert, man spielte – passend zur Kriegslage – das Finale aus Richard Wagners „Götterdämmerung“, und zwei Wochen vor der bedingungslosen Kapitulation des Generalobersts Jodl in Reims fand das letzte Fußballspiel in der Geschichte des Dritten Reichs statt: Der FC Bayern München, „Gaumeister“ des Jahres 1945, schlug den TSV 1860 mit 3:2.

Wie war das alles möglich? Warum hat das deutsche Volk den Wahnsinn des Krieges bis zum unaufschiebbaren Zusammenbruch erduldet, ohne wie im November 1918 einen Aufstand oder eine Revolution vom Zaun zu brechen? Ian Kershaw gibt eine wenig überraschende Antwort:

OT Ian Kershaw:
„Die Antwort lautet: Terror. Der Terror war so groß, daß eine Revolution von unten unmöglich war. Im Gegensatz zu 1918. Wenn man 1945 und 1918 vergleicht, sieht man gleich den Unterschied. 1918 gab es noch ein Parlament, es gab politische Parteien und sogar eine Art Friedensbewegung, es gab keine Gestapo, keinen Terrorapparat, das war grundsätzlich anders. Es gab auch keine feindlichen Soldaten auf deutschem Boden. Und erst recht keine russischen Soldaten. Also, die Situation 1945 war vollkommen anders als 1918. Der Terror reichte vollkommen aus, um eine Revolution von unten auszuschalten.“

Aber es war nicht der Terror allein. Auch wenn die Massenbasis der Nationalsozialisten im Frühjahr 1945 bis auf die Gläubigsten der Gläubigen zusammengeschrumpft war, fremde Truppen wollte kaum jemand im Land haben. Deshalb wurde weitergekämpft.

OT Ian Kershaw:
„Man kann anhand von vielen Indizien sagen, die Unterstützung für die Partei ging weit runter… Hitlers Popularität war in freiem Fall… Niemand wollte fremde Truppen im Land haben… Es gab einen Grundkonsens zur Reichsverteidigung… Man muß unterscheiden zwischen der Popularität von Hitler und der Popularität der Verteidigung des Landes.“

Auf anschauliche Weise beschreibt Ian Kershaw in seinem 700seitigen Werk den Untergang des Hitler-Reichs. Beeindruckend die Detailkenntnis, mit der der 68jährige Brite die Befehlsstrukturen des Dritten Reichs bis ins dritte und vierte Glied hinein aufdröselt, wie brillant er sich auch in die Denkweise der Wehrmachtsgeneralität hineinzuversetzen versteht. Die Führung des Heeres durchschaute den militärischen Irrsinn Hitlers in der Schlußphase des Kriegs sehr wohl, wagte aber nicht aufzubegehren gegen den obersten Befehlshaber. Welche Mechanismen waren da Kershaws Einschätzung zufolge wirksam? Waren es die unheilvollen Traditionen des autoritären preußischen Militarismus, die da nachwirkten?

OT Ian Kershaw:

„Ich würde es nicht unbedingt nur auf das Preußentum zurückführen. Aber immerhin wußten die Nazis diese alten Begriffe wie Ehre und Pflicht auszubeuten… alles zu tun, um weiterzukämpfen und den Krieg zu verlängern, selbst wenn Deutschland in Scherben fiel.“

Die Haupterklärung, die Ian Kershaw anbietet für die bizarre Fügsamkeit, mit der die Mehrzahl der Deutschen ihrem „Führer“ in die Götterdämmerung des Dritten Reiches hinein folgte, die Haupterklärung, die Kershaw offeriert, ist eine strukturelle: Anders als etwa das faschistische Italien war das nationalsozialistische Deutschland tatsächlich ein „Führerstaat“. Mussolini mußte während seiner gesamten Amtszeit bis zu einem gewissen Grad Rücksicht nehmen auf König Viktor Emanuel III. und den „Großen Faschistischen Rat“, der ihn im Juli 1943 auch absetzte. Das bedeutete eine partielle Machtteilung. Etwas Vergleichbares gab es in Deutschland nicht. Hitler war nichts und niemandem Rechenschaft schuldig, es gab keine Institution, mit der er sich zumindest teilweise hätte abstimmen müssen. Und da Hitler beschlossen hatte, den Krieg in ein selbstzerstörerisches Armaggedon münden zu lassen, mußte ihm das deutsche Volk mehr oder minder widerspruchslos folgen.

OT Ian Kershaw:
„Ja, und das ist mein Hauptanliegen in diesem Buch, diese strukturelle Erklärung anzubieten für das Durchhalten.“

Was der Soziologe Max Weber als System der „charismatischen Herrschaft“ definiert hat: im Dritten Reich war es in düsterer Beispielhaftigkeit verwirklicht. Paradoxerweise handelte es sich in der Schlußphase des Kriegs um eine charismatische Herrschaft ohne Charisma, denn mit der Führerbegeisterung war es nicht mehr allzuweit her. Die Strukturen und Mentalitäten von Hitlers charismatischer Herrschaft blieben aber bis zum Selbstmord des Diktators im Führerbunker wirksam. Und die Funktionseliten des Dritten Reichs in der Ebene unter Hitler waren entweder zu zerstritten oder zu feige, oder sie verfügten nicht über die nötige Macht, um Hitlers selbstmörderischem Treiben ein Ende zu setzen.
Auch in seinem neuen Buch erweist sich Ian Kershaw als Koryphäe auf dem Feld der „narrativen Geschichtsschreibung“. In historiographischem Cinemascope bietet der britische Historiker eine einprägsame Interpretation der letzten Kriegsmonate. Es ist großes, ganz großes Geschichtskino, was Kershaw seinem staunenden Publikum da vorführt.

Gesendet in der Sendung "Kontext", Ö1, Dezember 2011




zurück nach oben