Der weiße König
György DRAGOMÁNRoman von aus dem Ungarischen von Laszlo Kornitzer
György Dragománs Roman "Der weiße König" wird von der Kritik flächendeckend gefeiert, und das mit Recht. Der 35jährige Ungar führt seine Leser in die Fäulnisphase des rumänischen Ceaucescu-Regimes zurück, konkret: in das Jahr 1986, als der reale Sozialismus in Agonie dahindämmerte und in Tschernobyl ein Reaktor in die Luft flog. Dragomán weiß, wovon er schreibt: Wie sein Protganonist, ein wacher, intelligenter Bub namens Dzsátá, hat auch er seine Kindheit und Jugend als Angehöriger der ungarischen Minderheit in Siebenbürgen verbracht.
Rumänien 1986, das war – in Dragománs Schilderungen bekommt man es noch einmal vor Augen geführt – eine durch und durch verrottete Gesellschaft: Niedertracht, Bosheit, Korruption und uneigennützige Gemeinheit vergifteten das Leben der Menschen bis in die feinsten Verästelungen des privaten Lebens hinein. Der elfjährige Dzsátá erfährt das am eigenen Leib, nachdem sein Vater, ein regimekritischer Naturwissenschafter, vor seinen Augen von der Staatssicherheit verhaftet und in ein Arbeitslager verschleppt worden ist. Der Bub wächst allein bei seiner Mutter auf, einer aus politischen Gründen entlassenen Lehrerin. Wohin er auch kommt, Dzsátá wird gemobbt und als Zuchthäusler-Sohn verspottet. Hat György Dragomán eigene Erfahrungen eingearbeitet in seinen Debütroman? Der Autor dementiert – und dementiert auch wieder nicht.
OT György Dragomán: "Einige Dinge habe ich schon selbst erlebt. Mein Vater ist zum Beispiel für einige Tage festgenommen und verhört worden, aber er mußte nicht monate- oder jahrelang in einem Arbeitslager schuften. Es gab auch Hausdurchsuchungen bei uns zu Hause, aber nur zwei Mal. Alles in allem hatten wir Glück: Der Staat wollte unsere Familie nicht zerstören, er wollte nur, daß wir nach Ungarn gehen."
In achtzehn souverän ineinander verwobenen Erzählungen legt Dragomán die Anatomie einer totalitären Gesellschaft offen. Wohin Dzsátá auch kommt – überall stößt er auf Kriechertum, Feigheit, Verlogenheit, Aggressivität und vor allem: auf brutale Gewalt. Da sind die sadistischen Lehrer, die nach oben kuschen und nach unten prügeln, wenn sie einmal Lust haben, sich abzureagieren, und das haben sie eigentlich permanent. Da sind die Jugendlichen auf der Straße, die sich das Leben gegenseitig zur Hölle machen und durchaus auch mal mit dem Messer zur Hand sind, wenn\\\'s um die Ehre oder ein paar Lei geht, die man dem Schwächeren abknöpfen kann. Da sind die Arbeiter auf der Straße, die den Kindern schamlos Gewalt antun, und da ist, in Dzsátás Fall, der nach Lavendelwasser duftende Großvater, früher eine große Nummer in der Partei, der im Garten hinter seiner Villa zusammen mit dem Enkel Katzen abknallt, um dem Elfjährigen den Umgang mit Handfeuerwaffen näherzubringen.
Der reale Sozialismus – in Dragománs Roman wird er noch einmal als zu Recht im Orkus der Geschichte versunkenes Unrechtssystem kenntlich, als eine durch und durch korrumpierte Gesellschaftsordnung, in der der Stärkere, Gemeinere, Brutalere über den Schwächeren, Sensibleren, triumphiert. Die Diktatur, so der Sukkus des Romans, bringt unvermeidlich das Schäbigste im Menschen zum Vorschein. In seiner brutalen Absurdität hatte der Ceaucescu-Sozialismus allerdings auch seine widersprüchlichen Seiten. Was heute erlaubt war, konnte morgen verboten sein und umgekehrt. Es war nicht leicht, in den kafkaesken Unübersichtlichkeiten des Systems zu erkennen, was im Moment gerade erlaubt, was unerlaubt war, weiß György Dragomán.
OT György Dragomán: "Die Regeln waren nicht klar. Niemand wusste: Was ist wirklich verboten? Die Folge war, daß jeder sich selbst zensuriert hat."
Dragománs Protagonist kann sich einzig und allein auf seine Familie verlassen, genauer gesagt, auf seine Mutter, die ihr möglichstes tut, um sich und den Knaben mit Anstand durchs Leben zu bringen. Die Familie als Residuum des Humanen – gab es das auch Dragománs Kindheit?
OT György Dragomán: "Es gab mehrere solche Momente: Ich erinnere mich, als ich in den Kindergarten kam, da sagte mein Vater zu mir: "Es gibt zwei Regeln. Erstens: Nichts, was du dort hörst, ist wahr. Zweitens: Du darfst dort nichts von dem erzählen, was wir zu Hause sprechen."
György Dragomán hat einen beklemmenden und berührenden, einen erstaunlich vielschichtigen Roman vorgelegt, spannend zu lesen, stilsicher und sprachlich überzeugend, auch in der Übersetzung von Laszlo Kornitzer.
Seit zwanzig Jahren lebt Dragomán jetzt schon in Ungarn. Mit Politik, mit Tagespolitik, beschäftigt sich der Schriftsteller nur am Rande, wie er sagt.
OT György Dragomán: "Unsere Demokratie ist nicht die Beste. In Ungarn widmen wir der Politik zu viel Energie, dabei ist es mit der Politik wie mit dem ungarischen Fußball: Es lohnt sich nicht, sich allzu viel damit zu beschäftigen. Aber trotzdem ist es eine funktionierende Demokratie, und das will ich nie vergessen. Immer wenn ich schreibe, denke ich mir: Gottseidank, ich kann schreiben, worüber ich will."
Daß György Dragomán noch viele Bücher von der Qualität seines Erstlings schreibt, sei ihm – und vor allem uns, seinen Lesern, gewünscht.
Buchhinweis:
György Dragomán: DER WEISSE KÖNIG
Roman, Suhrkamp Verlag (2008), 293 Seiten, ISBN-10: 3518419625.
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