"Gegen Depressionen hilft nur Arbeit"
Der Schriftsteller PETER HÄRTLING über seine Liebe zu Franz Schubert, abgefackelte Asylantenheime und den spezifisch österreichischen Tonfall bei Hofmannsthal und Joseph Roth. Von Günter Kaindlstorfer.Herr Härtling, Ihr Schubert-Buch sei ein Stück "triefender Altmänner-Erotik", stand kürzlich im "Spiegel" zu lesen. Kränken Sie solche Angriffe?
Härtling: Ach, wissen Sie, dieser Artikel hat so vorsätzlich unter die Gürtellinie gezielt, daß ich mir sage: Die Schande gilt dem, der's geschrieben hat. Ich kann die Haltung, die hinter einer solchen Geschmacklosigkeit steht, nur verabscheuen. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.
Sie hätten jetzt Gelegenheit dazu...
Härtling: Also, diese Art von Journalismus ist eine Verrohung des Umgangs miteinander, die mich eigentlich sprachlos macht. Ich war selber zwanzig Jahre Journalist, ich weiß, wovon ich spreche. Es handelt sich da um eine Mentalität des Wadelbeißens, die mit kritischem Journalismus oder mit Literaturkritik nichts mehr gemein hat. Diese bösartige Bissigkeit, mit der man sein Opfer ganz schnell von hinten anfällt und ein Stück Fleisch raushaut... nein, so etwas begreife ich nicht.
Zu Ihrem Buch: Was hat Sie an Franz Schubert interessiert?
Härtling: Am meisten natürlich Schuberts Musik, aber die Musik in Verbindung mit ihrem Schöpfer. Wissen Sie, für mich ist Schubert ein ganz und gar moderner Mensch. Er war einer der ersten bürgerlichen Künstler, von denen wir wissen, er hat das musikalisch außerordentlich gebildete Wiener Bürgertum als Basis genützt, nicht mehr Adel oder Klerus, wie die meisten Musiker und Komponisten vor ihm. Das wäre EIN Aspekt seiner Modernität. Ein anderer wäre der, daß er ständig allein gelebt hat, heute würde man sagen, er war Single. Schubert war einsam, sehr einsam, und obwohl er seine existenzielle Einsamkeit immer wieder auf vielfältige und zugleich komplizierte Weise zu unterlaufen versucht hat, ist er doch zeitlebens einsam geblieben. Ein überaus modernes Schicksal! Vor allem war Schubert auch ein Großstädter, ein Stadtwanderer, wie ich es nenne, auch eine moderne Existenzform.
War das biedermeierliche Wien denn eine "Großstadt"?
Härtling: Nicht im heutigen Sinn natürlich. Aber Sie dürfen nicht vergessen, Wien hatte zu Schuberts Zeit immerhin schon 200.000 Einwohner, das war doch eine ansehnliche Zahl, und Wien war ja auch die Hauptstadt eines Großreiches, eine imperiale Stadt.
Wenn es Ihnen um das Großstädtische geht, warum haben Sie dann nicht über Baudelaire oder, was weiß ich, über Gershwin geschrieben?
Härtling: Weil Schubert mir näher ist. Er war einer der ersten, die verstanden haben, daß der Mensch, sobald er mit der Natur bricht, ein Verlorener ist. Das scheint mir eine höchst aktuelle Einsicht zu sein.
Aber der Bruch mit der Natur ist doch schon viele tausend Jahre alt. Das ist doch eine alte Sache.
Härtling: Gewiß, man könnte beispielsweise den alten Empedokles ins Spiel bringen, da haben wir diesen Bruch auch schon, aber im neunzehnten Jahrhundert gewinnt die Entfremdung zwischen Mensch und Natur doch eine neue Dimension. Die Romantiker haben erkannt, daß sich Industrie und Technik zwischen den Menschen und die Natur schieben, daß der Mensch eine Sekundärschöpfung zu entwickeln beginnt, und diese Einsicht führt zu einer dramatischen Veränderung, zu einer dramatischen Spaltung zwischen Mensch und Natur. Das hat Franz Schubert thematisiert in seiner Musik.
Das überlieferte Schubert-Bild ist ein ausgesprochen verkitschtes...
Härtling (lacht): Ja, da haben Sie recht!
Woher kommt das Bedürfnis, den armen Schubert mit Zuckerguß und Obershäubchen zu versehen?
Härtling: Über den "Schubert-Franzl" waren schon zu seinen Lebzeiten sogenannte "G'schichterln" im Umlauf, wie man in Wien sagt, und schon damals Schienen diese G'schichterln, diese Anekdoten fast wichtiger zu sein als seine Musik. Für die Trivialliteratur war der herzige "Franzl" natürlich ein gefundenes Fressen.
Wenn man sich die Themen Ihrer Bücher anschaut, Herr Härtling, dann fällt auf, daß Sie eine deutliche Vorliebe für melancholische und unglückliche Künstler hegen: Lenau, Mörike, Hölderlin – und jetzt eben Schubert. Woher kommt Ihre Affinität zu den "großen Einsamen" der Kulturgeschichte, wenn ich das so nennen darf?
Härtling: Ich habe in meinen Büchern, die übrigens über weite Strecken fiktiv sind, wie ich betonen möchte, ich habe immer wieder periphere Existenzen zu beschreiben versucht. Auch im Schubert-Buch natürlich. Das hängt vielleicht damit zusammen, daß ich mich selbst als periphere Existenz begreife.
Was heißt das, "periphere Existenz"?
Härtling: Es heißt zu leiden. Es heißt, sich als Fremder auf dieser Welt zu fühlen.
Das klingt jetzt aber sehr pathetisch. Wie geht dieses Fremdheitsgefühl mit dem Alltag in der Bundesrepublik von heute zusammen? Sie führen ja – wie die meisten Menschen, nehme ich an – ein recht modernes Leben, mit Mikrowelle und CD-Player und solchen Sachen.
Härtling: Ja, wie geht das zusammen? Das hätten Sie auch den Schubert fragen können. Ich vermute, daß seine Zeit gar nicht so sehr verschieden von der unseren war. Das biedermeierliche Wien scheint mir von der heutigen Bundesrepublik gar nicht so weit entfernt zu sein. Und das moderne Leben mit seinen Annehmlichkeiten, ach Gott, das hilft überhaupt nicht gegen eine bestimmte Art von Leiden.
Welche Art von Leiden meinen Sie? Depressionen?
Härtling: Ja, so kann man es nennen.
Sind Sie ein depressiver Mensch?
Härtling: Ja, ich glaube, das kann man sagen. Ja, man kann es sagen.
Was läßt sich dagegen tun? Was hilft gegen diese Krankheit? Tabletten? Liebe? Sport?
Härtling: Dagegen hilft überhaupt nichts. Das einzige, was vielleicht helfen kann, ist Arbeit.
Sie haben sich eine Zeitlang auch politisch engagiert. In den siebziger Jahren haben Sie Willy Brandt und die SPD unterstützt.
Härtling: Das ist lange her?
Hat Willy Brandts Tod Sie berührt?
Härtling: Ja, das hat er. Ich glaube, der Tod von Willy Brandt hat das ganze Land berührt, auch die Menschen im Osten. Als Brandt Kanzler wurde, ging ein Aufatmen durch die Bundesrepublik, man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen. Seine Politik hat die Geschichte des Landes geprägt: die Öffnung zum Osten, zu den Menschen dort, die Demokratisierung der Bundesrepublik, all das wäre nicht denkbar ohne hin. Willy Brandt war ein großer, ein bedeutender Mann. Und ich sage das jetzt nicht als Floskel.
Nehmen Sie noch Anteil an politischen Vorgängen?
Härtling: An politischen Vorgängen schon, aber nicht mehr so sehr an parteipolitischen.
Sind Sie enttäuscht?
Härtling: Ja, die Parteien werden einander immer ähnlicher. Was mich ärgert, ist dieser Mangel an Perspektiven, der sich überall ausbreitet. Die Politik reagiert nur mehr, sie verzichtet auf jede Gestaltungskraft, das empfinde ich als groben Mangel.
Das klingt so, als hätten Sie resigniert.
Härtling: Nein, das kann man nicht sagen. Ich habe erst vor kurzem auf einer großen Demonstration in Frankfurt gesprochen, wo gegen die Ausschreitungen in Rostock protestiert worden ist. Ich mische mich noch ein, und zwar dort, wo ich es für für nötig halte. Aber für eine Partei ‹ nein, da lege ich mich nicht mehr ins Zeug.
Sie sagen, Sie vermissen politische Gestaltungskraft. Vielleicht kann man heute in Europa nur mehr reaktiv Politik machen, vielleicht sind die Probleme einfach zu komplex geworden.
Härtling: Ich bin nicht sicher, ob Ihre Diagnose stimmt, ob die Zeit der großen Entwürfe wirklich vorbei ist. Ein Beispiel: Was vielen Menschen heute fehlt, so glaube ich wenigstens, das ist der rettende Entwurf, das sind plausible Antworten auf eine ganze Reihe von wichtigen Fragen: Wie kann man dem maßlosen Verbrauch von Ressourcen auf dieser Welt Einhalt gebieten? Wie kann man die gewaltige Kluft zwischen Arm und Reich verringern? Wie kann man ein Stückchen Zukunft sichern? daß es darauf überzeugende Antworten gäbe – soweit sind wir leider noch lange nicht. Und das wäre keine Utopie, das wäre schlicht und einfach eine Frage des Überleben.
In Deutschland gärt es, Herr Härtling, Sie haben das ja schon angesprochen. Stichwort Rostock, Stichwort Ausländerhetze, Stichwort Arbeitslosigkeit. Es passieren da Dinge, die man eigentlich nicht mehr für möglich gehalten hätte.
Härtling: Also, den Neofaschismus gibt's heute quer durch Europa; den gibt's auch in Österreich, den gibt's auch in Frankreich und Italien. Aber was im Augenblick bei uns in Deutschland passiert, das scheint mir doch besonders beschämend. Die jungen Leute, vor allem die jungen Leute im Osten, leiden unter einem unglaublichen Identitätsverlust. Sie haben ihr ganzes Leben lang geschützt und reglementiert gelebt, diese Sicherheit ist mit einem Mal verschwunden. Als Ventil suchen sie sich jetzt die Schwächsten in der Gesellschaft aus. Welche Kräfte sie dabei unterstützen, wer das ist, nun, das wissen wir alle. Und was Rostock ganz konkret betrifft: Für meine Begriffe war das Debakel dort politisch gewollt, ich kann mir das nicht anders erklären. Oder es müssen solche Idioten dort regieren, daß einem schlecht wird, das kann natürlich auch sein.
Politisch gewollt in bezug auf die Asyl-Diskussion?
Härtling: Ja, das liegt wohl auf der Hand – als Argument für die Verschärfung des Asylrechts. Und wie man sieht, hat es ja auch funktioniert.
Ein harter Vorwurf.
Härtling: Mag sein. Ich kann's mir nicht anders erklären.
Es gibt in Ihren Büchern immer wieder einen starken Österreich-Bezug. Hat das biographische Gründe?
Härtling: Es hat AUCH biographische Gründe. Ich habe als Kind eine Zeitlang in Olmütz gelebt, wie Sie vielleicht wissen, und ich bin dort mit der österreichischen Literatur aufgewachsen, mit Anton Wildgans vor allem. Ich habe diesen eigenartigen österreichischen Tonfall noch im Ohr. Später las ich dann Hofmannsthal, Musil, Trakl, Hertha Kräftner, das sind Autoren, denen ich mich immer noch nahe fühle.
Eine Frage, die bei uns bis zum Überdruß diskutiert worden ist: Was unterscheidet die österreichische von der deutschen Literatur?
Härtling: Über dieses Thema hab ich mich vor zwanzig Jahren einmal lange mit der Hilde Spiel unterhalten. Ich sehe einen grundlegenden Unterschied, und der liegt im Tonfall. Die Österreicher haben eine bestimmte Art des sprachlichen Denkens, die in Deutschland nur sehr schwer vorstellbar wäre. Schriftsteller wie Hugo von Hofmannsthal oder Joseph Roth zum Beispiel... der Tonfall, ja es ist der Tonfall.
Und inhaltlich? Gibt es auch inhaltliche Unterschiede?
Härtling: Ja, ganz gewiß. Ich glaube, die österreichische Literatur ist auf eine eigentümliche Art und Weise konservativ. Es handelt sich da um eine konservative Grundhaltung, die oft sogar sentimental wirkt, die aber auch eine sanfte und insistente Neigung zur Rebellion in sich hat.
Karl Kraus und Thomas Bernhard waren aber gar nicht so sanft.
Härtling (lacht): Da haben Sie recht, die waren wirklich nicht sanft, die beiden. Das Österreichische kann für meine Begriffe eben auch große Schärfen haben... Aber diese konservative Haltung, die ist immer spürbar. Und das Wichtigste ist der Tonfall. Sehr sonderbar ist das alles... sehr eigentümlich... und mir durchaus nah.
Erschienen in "Wirtschaftswoche", Wien, 17. Dezember 1992.
DAS BUCH:
Peter Härtling: SCHUBERT
Roman, Kiepenheuer & Witsch (1992), 332 Seiten, ISBN: 3462024876.
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