"Hitler war ein schwarzes Loch"
HARRY MULISCH über das nihilistische Charisma des deutschen Diktators, die Lust am literarischen Spiel und seinen Historien-Thriller "Siegfried". Von Günter Kaindlstorfer.Harry Mulisch, es gibt unzählige Bücher über Hitler. Warum haben Sie noch eines geschrieben?
Mulisch: Weil ich von diesem Thema nicht loskomme. Das hat vermutlich autobiographische Gründe: Meine Mutter war eine deutsche Jüdin, mein Vater ein niederländischer Nazi-Kollaborateur mit österreichischen Wurzeln. Wenn Sie so wollen, gehen die Konfliktlinien des Zweiten Weltkriegs mitten durch mich hindurch. Dazu kommt die mysteriöse Karriere Hitlers, die mich schon seit Jahrzehnten fasziniert. Ein unlösbares Rätsel: Wie konnte aus dem gescheiterten Aquarellisten aus Braunau ein Monster von welthistorischer Dimension werden? Was für ein Mensch verbarg sich hinter der Maske des hysterischen Volkstribunen? Das sind die Fragen, die mich beim Schreiben des Buchs umgetrieben haben.
Haben Sie schlüssige Antworten gefunden?
Mulisch: Mein Held, der Schriftsteller Rudolf Herter, glaubt eine schlüssige Antwort gefunden zu haben. Er fliegt nach Wien, um seinen neuen Roman im Rahmen einer öffentlichen Buchpräsentation in der österreichischen Nationalbibliothek vorzustellen. In Wien lernt er zwei alte Leute kennen, die einst auf dem Obersalzberg gearbeitet haben, als Kammerdiener bei Adolf Hitler und Eva Braun. Die beiden tischen ihm eine unerhörte Geschichte auf...
Die natürlich SIE erfunden haben.
Mulisch: Selbstverständlich, das ist mein Job. Ich dichte Eva Braun und Adolf Hitler einen unehelichen Sohn an: Siegfried. Jetzt kann man natürlich fragen: Was will Mulisch damit beweisen?
Was wollen Sie damit beweisen?
Mulisch: Ich versuche, hinter Hitlers Maske zu blicken, indem ich sein Verhalten als Vater untersuche. Nach übereinstimmenden Berichten muß er ein hochneurotischer, ein gefühlsunfähiger Mensch gewesen sein, und genauso verhält er sich in meinem Roman auch seinem Sohn gegenüber. Am Ende läßt er das Kind sogar töten.
Der Schweizer Psychiater Arno Gruen hat ein faszinierendes Buch über Hitler geschrieben: "Der Fremde in uns". Gruen behauptet, daß der deutsche Diktator der Welt das Bild eines geistig gesunden Menschen nur vorgespielt hat. "Hitler ahmte perfekt ein menschliches Wesen nach", schreibt Gruen.
Mulisch: Das geht genau in die Richtung, die mich interessiert. Mit einem wichtigen Unterschied. Meiner Ansicht nach kommt man Hitler mit psychologischen Erklärungen nicht bei. Man muß ihn metaphysisch erklären. Einer der führenden Generäle der Wehrmacht, Generaloberst Jodl, hat ihn einmal als "Buch mit sieben Siegeln" bezeichnet. Mein Held Herter glaubt, diese Siegel erbrochen zu haben. Er stellt fest, daß Hitler ein Blindband mit lauter leeren Seiten war, ein wandelnder Abgrund, ein schwarzes Loch. Er war nicht der Schauspieler, für den er oft gehalten wird, er war eine Maske ohne Gesicht dahinter, ein wandelnder Harnisch, in dem niemand steckte.
"Das letzte Wort über Hitler lautet: nichts", heißt es in Ihrem Buch.
Mulisch: Über diesen Mann sind schon so viele Bücher geschrieben worden, aufeinandergestapelt würden sie von hier bis zum Mond reichen, und alle diese Bücher versuchen die Frage zu beantworten, wie sich der kleine Adolf aus Braunau zum millionenfachen Massenmörder auswachsen konnte. Die einen sagen, das hänge mit seinem brutalen Vater zusammen, der ihn oft verprügelt hat. Ich frage: Warum wird dann nicht jeder, der von seinem Vater verhauen wird, zum Schlächter und Tyrannen? Die anderen sagen, er war ein verkappter Homosexueller, der mit einem fanatischen und zu allem entschlossenen Männerbund alles Weiche und Schwache in der Welt abtöten wollte. Wieder andere behaupten, sein Erfolg lasse sich nur politisch erklären, aus der sozialen und wirtschaftlichen Malaise der 20er Jahre heraus. Ich behaupte, alle diese Studien verfehlen ihr Thema, weil sie sich mit etwas beschäftigen und nicht mit nichts. Hitler läßt sich nicht psychologisch oder politologisch, er läßt sich, wenn überhaupt, nur transzendental erklären, mit den Mitteln der Theologie.
Besteht dabei nicht die Gefahr, ihn zu sakralisieren?
Mulisch: Natürlich, diese Gefahr besteht. Aber ich sage: Wenn wir ihn mit psychologischen und historischen Analysen nicht erklären können, dann müssen wir zu religiösen Deutungsmustern greifen, um ihn zu verstehen.
Hitler als Fürst der Finsternis?
Mulisch (lacht): Vielleicht war er das, ein Abgesandter des Teufels, ja. Wissen Sie, daß er die Sonne gehaßt hat. Er trug auch im Sommer stets Uniformmütze oder Hut, und in den Innenräumen, in denen er sich aufhielt, durfte das Licht nicht zu hell brennen. Auch Hitlers Arbeitszimmer war nachts nur von einer Schirmlampe erleuchtet. Ein Feind des Lichts war er also im Wortsinne. Er haßte übrigens auch Blitzlichter, wenn er fotografiert wurde.
Sind Sie sicher, daß er keinen Klumpfuß hatte?
Mulisch: Nein, das war der andere, der Propaganda-Minister.
Sie gewähren Ihren Lesern intime Einblicke ins Privatleben des Führers. Wir dürfen ihn bei der Zahnhygiene beobachten, beim Nachtimbiss mit Eva Braun, bei den Präliminarien eines Liebesspiels. Woher wissen Sie eigentlich so genau, wie sich das alles abgespielt hat?
Mulisch: Ganz einfach, es gibt Memoiren von Bediensteten. Da hab ich mich bedient.
Daß Hitler jeden Tag bis elf geschlafen hat, stimmt das?
Mulisch: Ja, er war ein leidenschaftlicher Spätaufsteher. In dieser Beziehung ist er stets der Bohemien seiner jungen Jahre geblieben. Während des Kriegs hat dieser Hang zum Faulenzen Tausende Menschen das Leben gekostet. Wenn morgens um acht der Lagebericht von der Ostfront kam und dringende Entscheidungen gefällt werden mußten, wagte niemand, den Führer aus seinen Träumen zu reißen. Er schlief und durfte um Gottes Willen nicht geweckt werden!
Was für ein Verhältnis hatte er zum Tod?
Mulisch: Ein interessantes Thema. Natürlich war er todessüchtig, das liegt auf der Hand, er hat allerdings nie ein Konzentrationslager oder eine bombardierte Stadt oder so etwas besucht, davor hat er sich gedrückt. Er tat alles, damit die Menschen in großem Maßstab starben, nicht nur in den KZs, sondern auch an den Fronten, in den besetzten Gebieten, Blut sollte fließen, Ströme von Blut aber in seiner Abwesenheit. Wenn Hitlers Zug durch die Ruinen einer zerbombten Stadt fuhr, mußten die Vorhänge geschlossen bleiben. Er hielt sich stets im Auge des Taifuns auf, oder besser gesagt: Er WAR das Auge des Taifuns. Rings um sich verbreitet dieser Mann nichts als Tod und Zerstörung, aber im Auge des Wirbelsturms herrscht herrliches Wetter, Alpenveilchen blühen, Kuhglocken bimmeln, und der Himmel ist blau. Seine Villa auf dem Obersalzberg ist das Symbol dafür.
Thomas Mann hat den "Basiliskenblick" Hitlers beschworen, sein Charisma, das seine Opfer zugleich verführte und tötete. Besaß er das wirklich?
Mulisch: Ganz bestimmt. Wir haben ja hunderte von Zeugnissen, die das belegen. Es gab zum Beispiel Wehrmachtsgeneräle, die kurz vor dem Ende des Kriegs zu einer Lagebesprechung in den Führerbunker gebeten wurden, in einer militärisch aussichtslosen Lage, als sich die Armee bereits in Auflösung befand. Die Generäle unterhielten sich eine halbe Stunde mit Hitler, dann traten sie mit leuchtenden Augen aus dem Besprechungszimmer und sagten: "Es ist phantastisch! Wir bekommen ein neues Heer!" Dabei wußte jeder: Es gibt kein neues Heer. Hitler war ein Wrack zu dieser Zeit, ein kranker, gebrochener Mann, und immer noch besaß er diese Überzeugungskraft!
Die Farbe Braun spielt eine bedeutende Rolle in Hitlers Leben. Ist das mehr als ein nebensächliches Detail?
Mulisch: Mysteriös ist es auf alle Fälle. Die Farbe Braun zieht sich wie ein Leitmotiv durch seine Biographie. Er wurde in Braunau am Inn geboren, die NSdAP-Zentrale in München war als "Braunes Haus" bekannt, die Schläger der SA hießen "Braunhemden", und dann ließ er sich auch noch mit einer Frau namens Eva Braun ein... Seltsam, nicht?
Ein Verschwörungstheoretiker würde jetzt sagen: Das kann doch kein Zufall sein.
Mulisch: Ich habe keine Erklärung dafür. Wahrscheinlich ist das einzige, was man tun kann, es festzustellen.
Wie zufrieden waren Sie mit dem Echo auf Ihren Roman in den Niederlanden?
Mulisch: In aller Bescheidenheit: ausgesprochen zufrieden. Die Verkaufszahlen waren sehr gut, und was die Kritiken betrifft: Da hat es natürlich auch kritische Stimmen gegeben, aber im großen und ganzen war die Resonanz doch sehr positiv. Auf die Reaktion der Juden und der Deutschen war ich von Anfang an besonders gespannt. Von jüdischer Seite gab es bis jetzt eine einzige Besprechung, im israelitischen Wochenblatt in Amsterdam, und die war enthusiastisch. Jetzt warte ich ab, was die Deutschen und die Österreicher zu "Siegfried" sagen.
ERSCHIENEN in "Der Standard", Wien, 6. Oktober 2001.
zurück nach oben