Suche:
zurück zur Übersicht
Peter Rosei

"Meine Bücher sind wie Labyrinthe"

PETER ROSEI über Lebenskunst und Lifestyle, über bsoffene Dichter und das Gänsehäufel. Von Günter Kaindlstorfer.

Zu Besuch bei Peter Rosei in Wien-Währing: Man öffnet ein unscheinbares Haustor in der Hildebrandgasse, man läßt das Blau des Maihimmels hinter sich und findet sich in einem düsteren, ziemlich heruntergekommenen Zinshaus wieder. Das abgegriffene Stiegengeländer, die schmutzigen Wohnungstüren, die Fensterbretter, alles riecht nach Substandard. Man steigt eine finstere Treppe hinauf, im ersten Stock öffnet sich mit Schwung eine Klotür, eine junge Türkin kommt heraus. Das Rauschen der Spülung übertönt ihr gebrochenes "Guten Morgen".

Oben im zweiten Stock, gleich unterm Juchhe, wohnt Peter Rosei. Betritt man die Wohnung des Kafka-Preisträgers, dann weitet sich eine andere Welt vor den Augen des Besuchers: eine geräumige, sonnendurchflutete Wohnung, viele Bücherregale, eine Stereoanlage mit alten Schallplatten ("Rolling Stones"!) ein Eßtisch mit Stühlen, ein Sofa, eine moderne Skulptur und ein Korbsessel. In diesem Korbsessel sitzt Peter Rosei. "Ich fühle mich wohl hier", sagt er lachend, "außer meiner Freundin und mir wohnen in diesem Haus lauter Türken. Bei uns im zweiten Stock heroben wohnt überhaupt niemand mehr, wir haben völlige Freiheit, niemand stört uns."

Mit dieser Idylle dürfte es bald vorbei sein. Der Hausbesitzer, so Rosei, denke an Renovierung, und das heißt: Die soziale Zusammensetzung der Mieterschaft wird sich gründlich ändern. Ausländer raus, zahlungskräftige Mittelschicht-Mieter rein. Dem Peter Rosei ist das gar nicht recht. Er fürchtet um das spezielle Flair des Hauses, um seine Ruhe, vor allem während der Renovierungsarbeiten.

Für gewöhnlich sitzt der Gastgeber um diese Zeit schon am Schreibtisch. "Ich bin ein Morgenmensch." Täglich um sieben springt Rosei aus den Federn, gemeinsam mit seiner Freundin, die ein Montessori-Schulprojekt betreibt und zeitig in der Früh zur Arbeit muß. Ab acht sitzt er schon an der Schreibmaschine. Lästig ist ihm dabei nur das Telefon, das den Fluß der Gedanken durch den Kopf ständig unterbricht und aufstaut: "Dabei hab' ich noch Glück: Die meisten Leute rufen erst ab elf an, weil es dieses Vorurteil gibt, daß man Dichter erst ab elf anrufen darf. So nach dem Motto: Dichter sind in der Nacht immer b'soffen, die müssen lange schlafen."

Bei Peter Rosei ist das nicht der Fall. Der gebürtige Wiener gehört zu den tüchtigen Schreibern im Land. Man darf das nicht zuletzt als Reflex auf seine Herkunft verstehen – wie Peter Turrini, wie Gert Jonke und Peter Handke entstammt auch Rosei Verhältnissen, die man gemeinhin als einfach bezeichnet, wie jene hat auch er sich über die Literatur von seiner Herkunft emanzipiert: "Mein Vater war Eisenbahner in Wien, meine Mutter hat ein kleines Milchgeschäft geführt. Ich bin in diesem kleinbürgerlich-proletarischen Milieu aufgewachsen, das ein gewissermaßen organisches Nahverhältnis zur Sozialdemokratie unterhalten hat, und das später auch der Hauptträger der Kreisky'schen Politik war." Peter Rosei hat das Leistungs-Ethos dieser Schicht verinnerlicht, diesen zähen, im guten Sinne kleinbürgerlichen Willen, es durch Talent und Fleiß zu etwas zu bringen. Sein Jus-Studium, das nur nebenbei, hat der Autor in Mindest-Studiendauer mit Auszeichnung abgeschlossen.

In den siebziger Jahren, nach einem dreijährigem Intermezzo als Sekretär des Malers Ernst Fuchs, entflieht Peter Rosei der österreichischen Hauptstadt und siedelt sich im vergleichsweise beschaulichen Salzburg an. In dieser Zeit entstehen seine bekanntesten Romane, "Wer war Edgar Allan?" zum Beispiel, im barocken Salzburger Boden wurzelt aber auch seine Busenfreundschaft mit dem Zauberkönig der österreichischen Dichtkunst: "Mein Gott, der H. C. Artmann... In Salzburg war ich viel mit ihm zusammen. Damals hatten wir unsere große Moped-Zeit. Jeder von uns hat sich ein Moped besorgt, mit denen haben wir exzessive Ausfahrten unternommen. Einmal sind wir sogar bis Venedig gekommen." Frucht dieser Italien-Tour war der Artmann zugeeignete Taugenichts-Roman "Von Hier nach Dort", bis heute eines seiner stärksten Bücher.

Seit zwölf Jahren lebt Peter Rosei jetzt wieder in Wien – nicht ungern, wie er betont. "Wissen Sie, ich kenne Wien wie meine Westentasche, ich gehe viel spazieren, ich habe alle Grätzeln der Stadt erforscht, von Liesing bis Floridsdorf." Wenn er nicht spazierengeht, an drückend heißen Sommertagen etwa, trifft man Peter Rosei vielleicht im Nacktbadeteil des Gänsehäufels: "Ja, ins Gänsehäufel geh' ich gern mit meiner Freundin. Noch lieber fahren wir allerdings an den Donau-Oder-Kanal hinaus, dort gibt's eine Art Urwald mit einem stillen Wasserarm, da kann man wunderbar schwimmen. In dieser Hinsicht bietet Wien schon unglaublich viel, keine Großstadt außer Berlin hat derart tolle Bademöglichkeiten."

Wie gesagt: Peter Rosei ist ein rastloser, ein fleißiger Schriftsteller, sein Output ist erstaunlich. Seit seinem Prosadebüt vor etwa zwanzig Jahren, mit dem sprachgewaltigen Erzählband "Landstriche", hat er elf Romane, sieben Erzählbände, zwei Gedichtbände, einen Essayband und ein Theaterstück vorgelegt, jedes Jahr ein Buch also, und alle in jenem unverwechselbaren, fast möchte man sagen Rosei'schen Tonfall gehalten, der selbst dem sprödesten Stoff noch eine eigenwillige, sehr subtile Poesie abzugewinnen vermag. Man blättert in einem seiner Bücher, hält inne, blättert weiter und stößt auf Sätze wie diese: "Einmal träumte ich von einem Land, das weit war, grün und weit. Bäche waren darin und Seen. Sie glitzerten. Und es war eine Art von Musik über dem Land, ein Tönen, und Bäume, Gras und Felsen standen darin wie erlöst."

Rosei versteht es, mit wenigen, leicht hingeworfenen Sätzen eine Landschaft, eine italienische Dorfstraße, eine Tankstelle, ein Liebespaar im Hotelzimmer lebendig werden zu lassen. Es ist etwas Unstetes, etwas Rastloses in seinem Schreiben, Roseis Helden befinden sich immerfort auf Reisen, sind ständig unterwegs und auf der Suche. "Er hatte sich", heißt es in der Erzählung "Der Mann, der sterben wollte", "beinahe jeder Macht entzogen und lebte in einer Freiheit, die nur in der Müdigkeit ihre Grenze fand."

Im Interview erweist sich Rosei als harte Nuß, als ausgesprochen zäher Gesprächspartner. Er spricht viel und gibt bereitwillig Auskunft, aber dennoch, man gewinnt den Eindruck, er scheue vor klaren Aussagen zurück, wolle sich nicht festlegen, pflege einen deutlichen Hang zur Untertreibung. Was ihm das Reisen bedeute, will ich wissen, eine naheliegende Frage, wird doch in seinen Büchern stetig gereist, gehören seine Städte-Reportagen, auch in diesem Blatt, zum Allerbesten, was in diesem Genre geleistet wird. "Na ja", sagt Rosei, "das Reisen... Im Vergleich zum Normalverbraucher bin ich sicher viel unterwegs." Aus, Ende der Auskunft.

Ich beharre auf meiner Frage, stelle sie noch einmal. "Wissen Sie", sagt er, "das ist so eine Mythe, daß ich ständig irgendwo unterwegs bin. Das hängt vielleicht damit zusammen, daß ich ziemlich unsichtbar lebe. Wenn ich abends einmal in die Stadt geh', dann fragen alle: 'Wo kommst' denn jetzt g'rad her?' Dann sag' ich: 'Ich komme von meiner Wohnung in Währing.' Das glaubt mir dann niemand. Es gibt diesen Mythos, daß ich ständig irgendwo unterwegs bin." Im Verlauf des Gesprächs stellt sich dann heraus, daß Rosei soeben von einem sechswöchigen Kreta-Aufenthalt zurückgekehrt ist, daß er gern im Londoner East End spazierengeht, wo ihm die Atmosphäre, der vielen Bangladeshis wegen, so gut gefällt, und daß er demnächst nach Guatemala aufbrechen wird.

Ich stelle mir vor: Wenn man Peter Rosei auf der Straße träfe, im East End oder in Währing, man hielte ihn kaum für einen Dichter. (Andererseits, welcher Dichter, außer Handke, wirkt schon wie ein Dichter?) In Kleidung, Sprache, Gestik wirkt Rosei wie der freundliche Computer-Fachmann von nebenan. Jede Exzentrik, jede Inszenierung von Künstlertum ist ihm fremd: "Ich halte diesen Künstler-Mythos nicht aus, mit dem manche Leute hausieren gehen: Der Schriftsteller als Priester der Schönheit, als einsames Genie, das gewissermaßen mit dem göttlichen Strahl operiert – grauenhaft!"

Literarisch gilt Peter Rosei als Meister der kleinen Form. In seinen frühen Büchern, von "Landstriche" bis zum "Schnellen Glück", spiegelt sich das Geschehen im Bewußtsein einer einzigen Person; seit seinem Roman "Die Milchstraße", und erst recht seit der sechsbändigen Roman-Reihe "15.000 Seelen", erprobt er sich in komplexeren Formen, in Spiel und Widerspiel verschiedener Erzähl-Perspektiven. Und dennoch, so sehr sich Rosei auch um Totalität bemüht, so vielschichtig er seine letzten Bücher auch angelegt hat, wie zuletzt den kritischen Lifestyle-Roman "Rebus", so zwangsläufig zerfällt ihm die Handlung in verschiedene Einzel-Geschichten, in aufgesplitterte, in sich abgeschlossene Prosastücke. Die Fragmentarisierung der Lebenswelt, in Rosei findet sie ihren Chronisten, einen Chronisten allerdings, der dieser Fragmentarisierung umso rettungsloser verfällt, je entschiedener er sie zu überwinden trachtet.

Daß es zwischen seinem Frühwerk und den Büchern der achtziger Jahre einen Bruch gibt, insbesondere ein Bemühen um mehr Totalität, um größere Zusammenhänge, bejaht Rosei. Aber er schränkt auch ein: "Mein Projekt war im Grunde genommen immer das gleiche. Meine Figuren sind ständig unterwegs, ständig auf der Suche nach Welt. Ich hasse alles Eindeutige, alles Totalitäre in der Literatur, ich lehne vor allem ab, daß sich der Leser mit einer Figur identifizieren kann, aber ich wollte immer ein Modell entwerfen, wie die Wirklichkeit funktioniert. Und zwar in bewußter Gegnerschaft zu denen, die diese sogenannte Wirklichkeit verwalten."

Der oppositionelle Gestus dieser Poetik ist der Arbeit Kafkas verwandt, wie Rosei betont. "Mein Vorgehen war immer gelassen", sagt er, "ich arbeite nicht spektakulär, ich arbeite still, geduldig. Kafka war ganz gewiß mein Hauptlehrer, im Zentrum seines Schreibens steht ein bestimmter Typ von Kleinbürger, heute würde man sagen, die Mittelschicht, und hier liegt eine Verwandtschaft, denn die Mittelschicht beschreibe ich auch."

Kafkas Figuren stehen einer totalitären Bürokratie gegenüber. Heute, so meint Rosei, habe das Bewußtsein abgenommen, daß man allenthalben beherrscht und verwaltet werde, heute scheine alles freier, alles verschwimme "in einem diffusen, völlig unklaren Lifestyle-Milieu". Der Kapitalismus sei schicker geworden, die Mechanismen der Macht funktionieren nicht mehr so plump wie noch zur Jahrhundertwende. "Wem gehören die großen Konzerne, wer bestimmt, was geschieht, wer schafft an? Das alles ist viel unklarer, viel weniger durchsichtig als zu Kafkas Zeit." Wie soll die Literatur auf diesen Verschleierungsvorgang reagieren, wie kann sie die Macht, die sich in tausenderlei Metamorphosen vernebelt und verflüchtigt, dingfest machen? Für Rosei liegt die Antwort auf der Hand: "Der Schriftsteller muß die Auswirkungen auf den Einzelnen ins Bild rücken."

Und das tut Rosei seit mehr als zwanzig Jahren. Unermüdlich schreibt er die Beschädigungen des Einzelnen fest, seine Verzweiflung, seine Einsamkeit, seine Hoffnungslosigkeit. Dabei ist ihm jedes Moralisieren fremd, auch jedes Angebot zur Identifikation: "Ich entwerfe meine Bücher als Labyrinthe, man geht in sie hinein, man spaziert in ihnen herum, am Schluß verläßt man sie wieder und fragt sich: Hat mir das gepaßt oder nicht? Ich möchte meine Erzähl-Gebäude so anlegen, daß man alle Punkte von allen Ecken aus einsehen kann. Es gibt Leute, die in meinen Büchern gar nichts finden. Das ist in Ordnung, ich möchte keine Herrschaft ausüben, auch in meinen Büchern nicht, ich möchte vermeiden, daß man sich zum Beispiel mit einer Figur identifiziert. Ich betrachte den Leser nicht als Ratte, die am Schluß die Banane kriegt."

Auch abseits des eigenen Schreibens setzt Rosei mannigfache Aktivitäten. Er engagiert sich für das Montessori-Projekt seiner Freundin, er unterstützt die Bemühungen, aus der Wiener "Schule für Dichtung" eine ständige Einrichtung zu machen, er unternimmt exzessive Spaziergänge, und natürlich schreibt er an einem neuen Buch. Wenn ihm dann noch Zeit bleibt, fährt er für einen Nachmittag ins Gänsehäufel. Die Badesaison hat schließlich gerade erst begonnen.

ERSCHIENEN in "DIe Presse" am 29. Mai 1993




zurück nach oben