Mircea Cartarescu: die Wissenden
Roman aus dem Rumänischen von Gerhardt CsejkaRezension von Günter Kaindlstorfer
Die deutschsprachige Literaturkritik hat ein imposantes Vergleichs-Arsenal aufgefahren, um Mircea Cartarescus begnadeten Roman "Die Wissenden" kulturhistorisch zu nobilitieren. Als eine Mischung aus Gottfried Benn und "Blade Runner" hat man den 530-Seiten-Roman bezeichnet, als rumänische Melange aus Pynchon, Proust und Kusturica. Vergleiche, die eine gewisse Berechtigung haben. Postmoderne und schwarze Romantik irrlichtern durch die surrealen Text-Labyrinthe des 51jährigen Rumänen ebenso wie Science-Fiction- und Fantasy-Zitate sonder Zahl.
Der Autor selbst, ein jungenhaft wirkender Mann mit Donovan-haften, dunklen Augen, bemüht eine kartographische Metapher, um das Konzept seiner "Orbitor"-Trilogie zu erklären.
OT Mircea Cartarescu: ",Orbitor\' ist so etwas wie eine Landkarte meines Gehirns, eine Landkarte meiner Erinnerungen, meiner Träume, meines Unbewußten. Für Psychoanalytiker ist das Buch ein gefundenes Fressen, und Kaffeesudleser können aus ihm, wenn sie Lust haben, die Zukunft lesen."
Eine Inhaltsangabe der "Wissenden" zu geben ist so gut wie unmöglich. Im Zentrum des Geschehens stehen der Ich-Erzähler Mircea und seine bizarre Familiengeschichte. Ende des 19. Jahrhunderts brechen Mirceas Vorfahren von Bulgarien aus in die Walachei auf, sie werden von einer gespenstischen Meute von Toten überfallen. Damit sie die gefrorene Donau überqueren können, muß ein Findelkind namens Vassili seinen Schatten opfern. In grotesken Visionen entwickelt Cartarescu seine Geschichte, die ins kriegsgebeutelte Bukarest der 40er Jahre ebenso führt wie in den bleiernen Betonsozialismus der rumänischen Nachkriegszeit – und: ins Mississippi-Delta, wo der Dichter die Anhänger eines obskuren Voodoo-Kults bei ihrem tollen Treiben beobachtet. Cartarescu greift tief in die Splatter-Kiste: Tote Ahnen steigen aus ihren Gräbern und verbünden sich mit Dämonen, ein Voodoopriester und ein schwarzer Albino treten auf - als Führerfiguren der titelgebenden "Wissenden", einer weltverschwörerischen Sekte. Reales und Surreales, Esoterik, Naturwissenschaften und obskure Geheimlehren gehen in Cartarescus Roman eine ironisch gebrochene Verbindung ein.
OT Mircea Cartarescu: "Die rumänischen Kritiker sagen, es gibt verschiedene Cartarescus: einen phantastischen voller Phantasie und Imagination, einen realistischen, der die Phänomene der Welt detailreich beschreibt, einen romantischen, der sich mit abgründigen Gefühlen beschäftigt und einen visionären, der die bedeutenden Themen abhandelt, die Beschaffenheit der Welt, die großen metaphysischen und religiösen Probleme der Menschhheit. Ich bin ein bisschen von all dem. Für mich ist das nichts Besonderes."
Sein poetisch-nihilistisches Credo bringt der Schriftsteller an einer Stelle des Romans so auf den Punkt: "Wir sind dünne Spinnennetze, die der Wind bläht und zerreißt. Wir sind Interferenz-Farbsäume auf einer Seifenblase, vielfarbig, feucht, verzweifelt... Unsere Welt ist ohne Gewicht und ohne Sinn." So könnte man lange weiterzitieren aus Cartarescus Roman, den Gerhardt Csejka brillant ins Deutsche übertragen hat. Die Realität, für Cartarescu ist sie lediglich ein "Sonderfall des Irrealen"...
OT Mircea Cartarescu: "Das Schreiben ist für mich eine Droge, eine psychedelische Erfahrung. Ich schreibe deshalb so gern, weil ich dabei eigenartige Dinge sehe. Die Wirklichkeit erscheint mir seltsam verformt und bizarr. Deshalb schreibe ich immer mit der Hand. Das geht langsam, und die Erscheinungen und Gestalten haben Zeit, sich zum Text zu formen. "Texistenz", nenne ich das – eine Wortzusammensetzung aus "Text" und "Existenz". "Texistenz" ist integraler Bestandteil meines Schreibens."
Mircea Cartarescus Roman ist auch eine Hommage an seine Heimatstadt Bukarest. Wie Dublin bei Joyce oder Buenos Aires bei Borges wird die rumänische Hauptstadt in den metapherntrunkenen Schilderungen Cartarescus zur mythischen Metropole, zu einer stadtgewordenen "Melange aus Fleisch, Stein, Gehirnflüssigkeit, Stahl und Urin", wie es an einer Stelle des Romans heißt.
In Rumänien gilt Mircea Cartarescu seit Jahren als literarischer Superstar. Es wird Zeit, daß der sprachmächtige Rumäne auch bei uns eine größere Leserschaft gewinnt.
Buchhinweis:
Mircea Cartarescu: DIE WISSENDEN
Roman, Zsolnay Verlag (2007), 528 Seiten, ISBN-10: 3552054065.
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