Attila Bartis: Die Ruhe
Roman aus dem Ungarischen von Agnes RelleRezension von Günter Kaindlstorfer
Wie machen das die Ungarn? Unser Nachbarland bereichert die europäische Literatur nicht nur mit exzeptionellen Schriftsteller der 60-plus-Generation – von Imre Kertesz bis Peter Nadas – immer öfter machen auch magyarische Meistererzähler der jüngeren Garde auf sich aufmerksam. Attila Bartis zum Beispiel. Mit seinem 300-Seiten-Roman "Die Ruhe" hat der 37jährige jetzt eine verstörende Familiengeschichte vorgelegt, einen abgründigen Wenderoman, ein Kammerspiel neurotischer Selbstzerstörung. Der Suhrkamp-Verlag promoted den Roman als "eines der bleibenden Bücher über die Wende in Ungarn". Das trifft den Kern der Sache in den Augen des Autors nur bedingt. Er habe eigentlich keinen Polit-Roman schreiben wollen, sagt Attila Bartis.
OT Bartis: "Politik an sich interessiert mich nicht, mich interessiert ihre Wirkung auf die Menschen. Das kommunistische System hat die Menschen versehrt und stigmatisiert. Das wollte ich zeigen in meinem Roman. Ich wollte analysieren, wie das System die Menschen geformt oder besser gesagt: deformiert hat. Diese Deformationen sehen wir ja bis zum Jahr 1989, bis zum Ende des Kommunismus."
Im Zentrum von Attila Bartis\' Romans steht eine symbiotische Mutter-Sohn-Beziehung mit allen Ingredienzien des Perversen. Im Vergleich zu dem, was Bartis da schildert, gleicht das Tableau etwa der Jelinekschen "Klavierspielerin" einem veritablen Familien-Idyll. Rebeka Weér, einst eine umjubelte Heroine des Budapester Bühnenlebens, hat ihre Wohnung seit eineinhalb Jahrzehnten nicht mehr verlassen. Mitte der Siebziger, als ihre Tochter sich in den Westen absetzte, war die Schauspielerin mit Auftrittsverbot belegt worden. Damals versuchte die Diva in einem Verzweiflungsakt, ihre Karriere zu retten, indem sie eine gefakete Beerdigung für die Tochter inszenierte. Der Sarg der abgeblich Verewigten, einer Geigerin, wurde mit Fotos und Notenpapier gefüllt und in einer grotesken Zeremonie unter die Erde gebracht. Gleichzeitig verschickte Rebeka Todesanzeigen an hochmögende Apparatschiks aus Kultur und Politik. Es half nichts. Die einst euphorisch gefeierte Aktrice blieb von den großen Bühnen des Kadar-Reichs verbannt.
Die Konsquenz: Rebeka verbarrikadiert sich in ihrer mit Requisiten vollgestopften Wohnung. Bis zu ihrem Tod setzt die Schauspielerin ihren Fuß nicht mehr vor die Tür. Das bietet ihr Gelegenheit, ihren Sohn Andor, einen jungen Schriftsteller, der bei ihr lebt, nach allen Regeln der Kunst zu tyrannisieren. Die egozentrische Mama errichtet ein Schreckens-Matriarchat, dem sich der haßerfüllte Sohn mit Wollust unterwirft. Mit ihren Zornexzessen, Ängsten, Depressionen macht sie ihm das Leben zur Hölle.
Ganz nebenbei entwirft Attila Bartis in seinem Roman auch ein Panorama der jüngeren ungarischen Zeitgeschichte, von der Hochzeit des angeblich so gemütlichen Gulasch-Kommunismus, der so gemütlich auch wieder nicht war, bis zu den Wende- und Nachwendejahren der frühen Neunziger. Es ist ein graues, trübes, kaputtes Ungarn, in dem sich das Romangeschehen vollzieht. In der Tristesse der menschlichen Beziehungen spiegelt sich die Trostlosigkeit, die Korrumpiertheit des politischen Systems. Attila Bartis weiß, wovon er schreibt. Als Angehöriger der ungarischen Minderheit in Siebenbürgen geboren, hat der Autor zwei KP-Diktaturen aus der Innen-Perspektive kennengelernt.
OT Bartis: "Ich habe gleich zwei Systemwechsel mitgemacht. Zunächst habe ich in Siebenbürgen die schlimmsten Jahre der Ceaucescu-Zeit erlebt. Mein Vater, ein Journalist und Publizist, saß sechs Jahre lang in einem von Ceaucescus Gefängnissen, dann wurden wir nach Ungarn verbannt, die ganze Familie. Das war 1984. Ich war damals sechzehn. Bis zum Untergang des Kommunismus durften wir nicht nach Siebenbürgen zurückkehren. 1989 habe ich dann den demokratischen Umsturz in Ungarn miterlebt. Diese Zeit habe ich in sehr, sehr guter Erinnerung. Es war eine große Euphorie damals. Euphorisch machte mich die Befreiung vom KP-Regime, zum anderen aber auch der Umstand, daß ich zum ersten Mal nach sechs Jahren wieder in meine Heimat Siebenbürgen zurückkehren durfte."
Attila Bartis lebt seit mehr als zwei Jahrzehnten in Budapest. Er sei, bekennt der Schriftsteller, ein melancholischer, nein, ein depressiver Mensch. Natürlich fühle er sich nicht immer gleich niedergeschlagen, es gebe durchaus Höhen und Tiefen. Aber eines sei unbestreitbar: Depressiv sei er immer. Dabei hat Bartis überhaupt keinen Grund zur Schwermut. Sein Roman beispielsweise ist mit enthusiastischen Kritiken bedacht worden. Andreas Breitenstein lobte "Die Ruhe" in der "Neuen Zürcher" als großen Wende-Roman, als "andächtiges Memento mori", als "kalkuliertes Spiel mit dem Entsetzen". Richard Kämmerlings in der "Frankfurter Allgemeinen" wiederum pries die "beeindruckende Sprachkraft" des Buchs, er erklärte Bartis\' Roman zu einem "gewaltigen Epitaph auf eine tyrannische, verrückte, unerträgliche Mutter".
Den Autor, einen blassen, großgewachsenen, schüchtern wirkenden Mann, scheinen Elogen dieser Art eher kalt zu lassen. Wie man überhaupt den Eindruck hat: Attila Bartis legt keinen Wert auf Interviews, Lesungen, Rezensionen, Signierstunden, das ganze Talmi des Literaturbetriebs, das er, so hat man den Eindruck, für platte Oberflächenphänomene hält. Damit liegt er gewiß nicht falsch. Die Essenz des Literarischen wird vom Klappern des Betriebs nicht einmal im Ansatz berührt. Man begegnet ihr am ehesten in der individuellen Begegnung mit einem Buch. In der Lektüre von Attila Bartis\' Roman "Die Ruhe" beispielsweise.
Buchhinweis:
Attila Bartis: DIE RUHE
Roman, Suhrkamp-Verlag (2005), 300 Seiten, 3518416820.
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