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Josef Winkler: LEICHNAM, SEINE FAMILIE BELAUERND
Kurzprosa, Suhrkamp Verlag (2003), ISBN: 3518124420.

Josef Winkler: Leichnam, seine Familie belauernd

Kurzprosa
Rezension von Günter Kaindlstorfer


Unscheinbarer geht\'s ja wohl nicht. Warum der Suhrkamp-Verlag Josef Winklers fulminante Prosa-Sammlung lediglich in einer Taschenbuch-Edition auf den Markt gebracht hat – schwer zu sagen. Hinter dem frugalen Bändchen verbirgt sich jedenfalls eine der bemerkenswertesten Neuerscheinungen der Saison. In 73 meisterlichen Prosa-Piecen breitet der Kärntner Autor das ganze Winklersche Literatur-Universum noch einmal vor uns aus: Weihwasserwedel tragende Ministranten und Lili-Marlen singende Kärntneranzugträger begegnen uns da, wunschkonzerthörende Großmütter mit einer Vorliebe für Gus Bacchus und lebensmüde Lehrlinge, die sich in Pfarrhofstadeln erhängen – in knapper, hochpoetischer Weise läßt Josef Winkler die Fixsterne seines literarischen Kosmos noch einmal in brillanter Leuchtkraft erstrahlen.

Die 73 Texte des Bandes sind in den letzten drei, vier Jahren entstanden. Ihre Genese? Er trage immer ein Notizbüchlein bei sich, erzählt der in Klagenfurt lebende Schriftsteller, mit seiner Pelikan-Füllfeder kritzle er das Büchlein mit Notizen voll, ehe er dann in einem zweiten und dritten Arbeitsschritt die Texte in obsessivem Perfektionsdrang immer und immer wieder umschreibe.

OT Winkler: "Ich wollte in diesen kleinen Geschichte lange, lange an den Texten schleifen und feilen... aber in diesen Geschichten auch ein kleines Universum hineintragen... Das ist momentan der Reiz meines Schreibens. Früher habe ich mit Hammerschlägen... Jetzt bin ich leiser geworden... Bin ich draufgekommen, dass gerade in der Stille ein Reiz liegen kann, und das reizt mich jetzt furchtbar."

Es sind die wohlbekannten Winkler-Sujets, die uns in diesen Prosa-Kapricen in origineller Weise noch einmal begegnen: Da ist die stickige, von patriarchalischer Enge geprägte Kindheit der 50er- und 60er-Jahre, die gewaltgesättigte Atmosphäre im post-, oder sollte man besser sagen, im neofaschistischen Kärntnen, da ist der Alltag auf dem elterlichen Bauernhof – all das wird in eindrucksvollen Prosaskizzen beschrieben.

Zitat:
"Vom frühen Kindesalter an habe ich darunter gelitten, wenn die Mutter auf die Frage, ob ich mir, wie der Lehrersohn, auch ein Buch kaufen könne, bestimmend feststellte: Für Bücher haben wir kein Geld! Damals aber verkaufte ich in der Dorfvolksschule landauf und landab für den "Buchclub der Jugend" die allermeisten Lose und bekam dafür vom Lehrer den Hauptpreis. Es war "Der glückliche Prinz" von Oscar Wilde. Später stahl ich vom Patriarchen Geld, um mir Bücher kaufen zu können, zuerst Karl-May-Bücher, später "Die Pest", "Der Fremde", "Der alte Mann und das Meer", "Das Spiel ist aus", "Der Schatten des Körpers des Kutschers", "Abschied von den Eltern". Stehend las ich als Sechzehnjähriger im vollbesetzten Omnibus, der uns nach Schulschluß wieder ins nebelverhangene Dorf brachte, "Finnegans Wake", verstand keinen Satz, spürte nur den Rausch der Worte, und alle Omnibusinsassen sollten auf den Umschlag des Buches blicken können: James Joyce, Finnegans Wake."

Er sei immer ein bildfixierter Autor gewesen, erklärt Josef Winkler. Sein ganzes Oeuvre sei im Grunde eine Collage aus Bildern und nichts als Bildern.

OT Winkler: "Da kann man diese elf Bücher durchschauen: Da gibt es ganz wenige Sätze, die nicht aus Bildern bestehen. Und deshalb bin ich sehr von Bildern abhängig."

Deutlich erkennbar wird das beispielsweise, wenn Winkler seine Mutter beschreibt, eine Bäuerin aus dem Kärntner Drautal.

Zitat:
"An der Singer-Nähmaschine brennt eine kleine, die senkrecht auf- und abzuckende Nadel beleuchtende Glühbirne. Holz knistert im Sparherd. Auf dem Rand der heißen Herdplatte steht ein Wassertopf mit eingeweichten Hagebutten. An ihrem rechten Daumen steckt ein silberner, gerillter Fingerhut. Ihre Unterschenkel – ein Venenleiden – sind eingewickelt und eingefascht von braunen, elastischen, vom vielen Waschen schon leicht aufgerauhten Binden."

Es sind farbsatte, sinnlichkeitstrunkene Texte, mit denen Josef Winkler in diesem Büchlein aufwartet. Was seine Prosa auszeichnet, ist ein präziser und poetischer, ein mitunter auch liebevoll ironischer Blick auf die Welt. Ob der Autor in poetischer Detailversessenheit die Polenta in der Oberkieferprothese seines Vaters beschreibt oder die Wonnen präpubertärer Winnetou-Lektüre, ob er ein schwules Intermezzo auf einem Bahnhofsklo in Berlin heraufbeschwört oder die für Europäer doch reichlich makaberen Rituale auf einem indischen Einäscherungsplatz – immer ist Winkler mit poetischer Akkuratesse bei der Sache. Mitunter blitzt sogar so etwas wie Humor auf, vor zehn oder zwanzig Jahren noch undenkbar bei Winkler, dem carinthischen Erz-Düsterling.

Zitat:
"Bald nach dem Erscheinen meines ersten Buches versprach ich einem jungen Mann, daß ich mich in den nächsten Tagen entleiben werde. Als wir eine Zeitlang später – ich war immer noch am Leben – einander auf der Straße wiederbegegneten, sagte er in einem Tonfall der Enttäuschung und des Vorwurfs: Weißt du, Josef, gerade von dir habe ich erwartet, daß du DEIN Wort hältst!"

OT Winkler: "Verändert haben sich diese kleinen Prosaminiaturen gegenüber den anderen von früher, indem es mir gelungen ist, etwas ironischer, witziger zu sein als früher... in ein Narrenkästchen hineingesteckt, und das ist eben dieses Buch, das über 160 Seiten geht."

"Leichnam, seine Familie belauernd" ist mehr als ein Readers-Digest aus Winklers Gesamtwerk. Das 150-Seiten-Bändchen darf gleichberechtigt neben den anderen, großen Winkler-Büchern stehen. Selten kam ein Meisterwerk mit so viel äußerem Understatement daher.

Buchhinweis:
Josef Winkler: LEICHNAM, SEINE FAMILIE BELAUERND
Kurzprosa, Suhrkamp Verlag (2003), ISBN: 3518124420.



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