Noam Chomsky: Der Gescheiterte Staat
Aus dem Englischen von Gabriele Gockel, Bernhard Jendricke und Thomas WollermannRezension von Günter Kaindlstorfer
Noam Chomsky ist ein Missionar, ein Prediger, einer, der sich im Vollbesitz unhinterfragbarer Wahrheiten wähnt. Das dürfte mit ein Grund sein, warum der brillante Linguist als politischer Analytiker so unerhört umstritten ist. Auch in seinem jüngstem Werk geht Chomsky mit dem Furor des Agitators ans Werk: Er diskutiert seine Thesen nicht, er dekretiert sie. Man hat das Gefühl: Gegenargumente, Einwände, Differenzierungen lässt dieser Mann nicht gelten, er weiß von Anfang an, worauf er hinauswill, und darauf prescht er zu wie ein Kampfstier auf den Torero.
Die zentrale These von Chomskys neuem Buch lässt sich in einem einzigen, doch eher schlichten Satz zusammenfassen. Die USA sind schuldig, schuldig, schuldig.
Zitat:
"Im Brustton der Selbstgerechtigkeit verlangen die Vereinigten Staaten von anderen Ländern die strenge Einhaltung des Völkerrechts, von Verträgen und Regeln der Weltordnung, betrachten sie aber für sich selbst als unerheblich – eine seit langem geübte Praxis, die unter den Regierungen Reagan und Bush II. neue Ausmaße erreicht hat."
"Der gescheiterte Staat", so lautet der Titel von Chomskys Kampfschrift. Das Buch ist eine wüste Attacke gegen die Supermacht USA, in der – man mag Chomsky da keineswegs widersprechen – eine Menge nicht so läuft, wie es laufen sollte.
Zitat:
"Das amerikanische System steckt in einer tiefen Krise. Immer mehr nimmt es Züge eines "failed state", eines gescheiterten Staates an, um einen modischen Begriff zu verwenden. Mit dieser Bezeichnung werden üblicherweise Staaten bedacht, die, wie der Irak, eine potenzielle Bedrohung für unsere Sicherheit darstellen, oder die wie etwa Haiti unser Eingreifen benötigen, um ihre Bevölkerung vor gravierenden Gefahren zu bewahren."
Die Vereinigten Staaten auf einer Stufe mit Irak und Haiti? Eine polemische Zuspitzung, natürlich. Obwohl man sagen muß: Vieles von dem, was Noam Chomsky gegen das politische System der USA vorbringt und was ihn in seiner Heimat zum halb-dissidentischen Außenseiter macht, ginge in der europäischen Amerika-Analyse als Mainstream durch. Zuallererst ortet Chomsky ein Demokratie-Defizit im Mutterland aller modernen Demokratien. Seine Hauptkritik, wenig originell: Die Lobbyisten der Großindustrie hätten den Regierungsapparat fest im Griff. Das Big Business und niemand sonst bestimme die Politik der Vereinigten Staaten.
Zitat:
"Die reaktionären etatistischen Kräfte, die die politische Macht in Händen halten, sind engagierte Krieger. Unbeirrbar und leidenschaftlich bis zum Karikaturhaften dienen sie mit ihrer Politik den wesentlichen Leuten – oder eher einem kleinen Teil von ihnen –, unter Missachtung der breiten Bevölkerung und zukünftiger Generationen und zum Schaden beider."
Das heißt: Die USA haben in den Augen Noam Chomskys ein echtes Demokratieproblem. Die Wahlbeteiligung zum Beispiel ist immer noch erschütternd niedrig, auch wenn sie in den letzten Jahren wieder etwas gestiegen ist. Das hängt Chomskys Einschätzung zufolge nicht zuletzt mit dem Fehlen einer starken Arbeiterpartei zusammen. Proletarische Schichten gingen in den USA oft erst gar nicht zur Wahl, weil sie sich von der politischen Klasse ohnedies nicht vertreten fühlten. Die Folge: Die Großindustrie bestimmt die politische Agenda noch ungenierter, als sie\'s ohnehin schon tut.
Bei der Aushöhlung der US-amerikanischen Demokratie spielen Chomsky zufolge auch die Massenmedien eine wichtige Rolle. Sie stehen, wie viele andere Bereiche der Civil Society, unter der Fuchtel des Großkapitals. Ihre Rolle als demokratische Kontrollinstanz nehmen sie ebenso unzulänglich wahr wie eine ihrer im Prinzip vornehmsten Aufgaben: die, Leser, Hörer, Seher vorurteilsfrei zu informieren. Der Qualitätsverlust der amerikanischen Massenmedien ist in Chomskys Augen dramatisch. Nicht minder dramatisch ist die Kommerzialisierung der politischen Kultur, die er allerorten diagnostiziert.
Zitat:
"Wenn es darum geht, Kandidaten zu verkaufen, greift die PR-Industrie naturgemäß auf dieselben Techniken zurück, die sie auch bei Konsumgütern anwendet. Durch Täuschung wird die Demokratie ebenso nonchalant ausgehöhlt, wie ansonsten der Markt ausgehebelt wird. Den Wählern entgeht der Mummenschanz nicht. Vor den Wahlen des Jahres 2000 bewertete eine breite Mehrheit der Stimmberechtigten die Wahlen als Operettenveranstaltung reicher Spendenzahler, Parteimanager und der Werbeindustrie, die Kandidaten darauf trimmt, ein Image zu verkörpern und mit hohlen Phrasen auf Stimmenfang zu gehen."
Kein gutes Haar lässt Noam Chomsky auch an der US-amerikanischen Außenpolitik. Der Irak-Krieg: in seinen Augen ein einziges Desaster.
Zitat:
"Der Irak ist zu einem Anziehungspunkt für islamistische Kämpfer geworden, ähnlich wie zwei Jahrzehnte zuvor das sowjetisch besetzte Afghanistan... Außerdem hat die Invasion im Irak das "Ansehen" antidemokratischer Radikaler wie jener von al-Kaida in der gesamten muslimischen Welt enorm gestärkt."
In dieser Einschätzung wird Chomsky wohl niemand widersprechen. Daß sein Buch dennoch ein Ärgernis ist, hängt mit vielen Faktoren zusammen: Der 78jährige weiß vieles – das meiste – nur aus zweiter Hand. Es wird wahnwitzig viel zitiert in diesem Buch, grundsätzlich freilich nur, was Chomsky in den Kram passt. Überdies ist nichts, aber auch gar nichts originell an dieser Abrechnung mit dem US-amerikanischen Polit-System. Während der 340seitigen Lektüre hat man immerfort das Gefühl: alles schon gehört, alles schon irgendwo gelesen, bei Michael Moore zum Beispiel, nur war\'s dort witziger.
Am meisten enerviert der missionarische Tonfall des Ganzen. Noam Chomsky ist wie einer von denen, die im Wirtshaus ununterbrochen auf einen einreden, ohne sich auch nur eine Sekunde lang dafür zu interessieren, was das Vis a vis an Gegenargumenten, Abwägungen, Differenzierungen einzubringen hat. Auch wenn sie oft genug recht haben: Solche Typen nerven.
Buchhinweis:
Noam Chomsky: DER GESCHEITERTE STAAT
Antje Kunstmann Verlag (2006), 399 Seiten, ISBN: 3888974526.
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