Hew Strachan: Der Erste Weltkrieg
Eine neue illustrierte Geschichte, aus dem Englischen von Helmut EttingerRezension von Günter Kaindlstorfer
Zehn Millionen Tote, zwanzig Millionen Verwundete und die gigantische Vernichtung materieller Ressourcen – der Erste Weltkrieg war der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, die Wiege auch späteren Schreckens. Vieles von dem, was später kam, wäre ohne das Trauma des großen Kriegs nicht denkbar gewesen: nicht die russische Revolution und nicht der Siegeszug Hitlers, auch die wirtschaftlichen Krisen der 20er Jahre nicht. Manche Historiker sehen den Ersten und den Zweiten Weltkrieg als Einheit, wir hätten es, so lautet ihre These, im Grunde mit einem einzigen Krieg zwischen 1914 und 1945 zu tun. Der schottische Militärhistoriker Hew Strachan – Strachan geschrieben – kann mit dieser These nichts anfangen.
OT Strachan (ÜS): "Das kann man so sehen, wenn man aus Deutschland oder Österreich kommt. Als Brite oder Amerikaner stellt sich die Sache durchaus anders dar. Es ist gefährlich, Geschichte aus der Perspektive der Nachgeborenen zu betrachten. Wenn Sie den Ersten Weltkrieg als Teil eines langen, dreißigjährigen Krieges sehen, dann unterstellen Sie, dass die Menschen, die damals im Feld standen, schon gewusst haben, dass auf den ersten ein zweiter Krieg folgen würde. Also: Ich bin nicht glücklich über diese Hypothese. Eine Sache ist allerdings interessant: Einige Militärs auf deutsche Seite – ich denke da an Hindenburg und Ludendorff – gingen durchaus davon aus, dass, wenn Deutschland den Krieg verliert, noch ein zweiter Krieg folgen könnte. Sie stellten Vergleiche mit Ersten Punischen Krieg an, dem auch ein zweiter und ein dritter Krieg folgten. So gesehen war das Konzept vom dreißigjährigen Krieg auf deutsche Seite vielleicht angelegt, wer weiß. Meiner Meinung nach müssen wir uns deutlich machen, dass die Menschen 1918 wirklich davon ausgingen, dass der Krieg zu Ende war, ja mehr noch, dass es ein Krieg war, der das Ende aller Kriege bedeuten sollte."
Hew Strachan ist einer der weltweit profiliertesten Militärhistoriker. Seine illustrierte Geschichte des Ersten Weltkriegs, soeben bei Bertelsmann erschienen, ist das Nebenprodukt einer zehnteiligen Fernseh-Serie, die der Oxford-Professor für den britischen "Channel 4" erarbeitet hat. Interessant sind vor allem die Farbfotografien, die Strachan aufgetrieben hat, sie zeigen das Geschehen von damals in neuer, bisher unbekannter Form.
Strachans Resümee des Ersten Weltkriegs: Das große Morden war ein weitgehend sinnloses Unterfangen, das unsere Welt und unsere Weltsicht bis heute prägt. In seinem Buch bietet Strachan einen kompakten Überblick über die Ereignisse von 1914 bis 1918. Gestützt auf unzählige Augenzeugenberichte und umfassende Recherchen liefert der gebürtige Schotte ein bedrückendes Bild der Schützengräben an der Front, er beschreibt die Kämpfe, die Entbehrungen und das Leid der Soldaten wie der Zivilbevölkerung. Österreich-Ungarn, so meint Strachan, war militärisch auf einen Krieg dieser Dimension nicht vorbereitet. Das Habsburgerreichs verfügte über die schwächste Armee aller Großmächte – ohne deutsche Unterstützung hätte Österreich-Ungarn den Krieg nur ein paar Monate durchhalten können.
OT Strachan (ÜS): "Österreich-Ungarn war zwar stark genug, um einen Balkankrieg zu gewinnen, das heißt, es konnte Serbien besiegen. Aber es konnte keinesfalls einen Krieg gegen Serbien, Russland und Italien gewinnen, dazu fehlten die militärischen Ressourcen. Viele Menschen in Wien und Budapest haben zu Beginn des Jahres 1916 gesagt, der Krieg muß in diesem Jahr zu Ende gehen, sonst gibt es eine Katastrophe. Ohne deutsche Unterstützung wäre der Krieg längst verloren gewesen, aber jetzt stemmte sich Deutschland gegen Friedensverhandlungen. 1916 hatte Österreich-Ungarn im Grunde alles erreicht, was es zu Beginn des Krieges erreichen wollte: Serbien war besiegt, Galizien und Polen hatte man überrannt, gegen Italien verteidigte man sich durchaus erfolgreich. Das wäre ein guter Moment gewesen, den Krieg zu beenden und einen guten Friedensvertrag auszuhandeln. Es wäre einfach logisch gewesen."
Nur: Die deutschen Waffenbrüder ließen das nicht zu. Wie bewertet Hew Strachan den Friedensvertrag von Versailles? Es sei ein Mythos, so meint der Oxford-Historiker, dass der Vertrag den Deutschen inakzeptabel harte Bedingungen auferlegt hätte.
OT Strachan (ÜS): "Hitler hat den Vertrag von Versailles als Rechtfertigung für seine revanchistischen Ambitionen verwendet. Versailles als Unrechtsvertrag zu sehen, das hieße die Perspektive Hitlers zu übernehmen. Ich sehe es anders: Versailles war ein überaus ambitioniertes Projekt, vielleicht noch ambitionierter als der Wiener Kongreß von 1815. Beim Wiener Kongreß wollte man eine europäische Friedensordnung nach den napoleonischen Kriegen schaffen, in Versailles ging es um mehr: Es ging um eine globale Einigung, um die Durchsetzung demokratischer Prinzipien, um das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Woodrow Wilson postuliert hat, und um die Schaffung eines möglichst verbindlichen Völkerrechts. Das sind bis heute Ecksteine des internationalen Zusammenlebens geblieben. Also, ich sehe Versailles in einem durchaus positiven Licht: Und die Bedingungen für Deutschland waren keineswegs so hart, wie es die nationalistische Propaganda in München und Berlin darstellen wollte. Die Höhe der Reparationszahlungen entsprach ungefähr dem, was Deutschland Frankreich 1871 auferlegt hat. Also, Deutschland ist nach dem Ersten Weltkrieg gar nicht so schlecht ausgestiegen, wie immer wieder behauptet wird. Die Friedenskonditionen für Ungarn, Österreich und das Osmanische Reich waren ähnlich hart oder nicht hart wie für Deutschland – in keinem dieser Länder ist es zu revisionistischen Bestrebungen gekommen wie in Deutschland nach Versailles."
Das ist die Perspektive eines Briten, selbstverständlich. In Deutschland wird man das vermutlich anders sehen, auch heute noch. Eines der großen Verdienste von Strahans Buch ist es, die globale Dimension des Ersten Weltkriegs hervorzuheben. In den Augen vieler Historiker weitet sich der Erste Weltkrieg erst 1917 zu einem echten Weltkrieg aus – mit der Revolution in Russland und mit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Strachan sieht das anders.
OT Strachan (ÜS): "Meiner Ansicht nach ist es von Beginn an ein globaler Krieg. Vergessen Sie nicht: Mit Ausnahme Österreich-Ungarns sind fast ausschließlich Kolonialmächte in den Krieg involviert, das heißt, Afrika und Asien werden zu Kriegsschauplätzen, Australien, Neuseeland und Kanada treten gleich zu Beginn in den Krieg ein. Und London war damals das Weltzentrum des Geldmarkts, des Versicherungsmarkts und Schiffsmarkts. Also, die Verstrickungen waren global, von Anfang an."
Buchhinweis:
Hew Strachan: DER ERSTE WELTKRIEG
Bertelsmann Verlag (2004), 448 Seiten, ISBN: 3570007774.
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