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Antony Beevor: „D-Day – Die Schlacht um die Normandie“, C. Bertelsmann, München, 636 Seiten.

Antony Beevor: D-Day - Die Schlacht um die Normandie

Aus dem Englischen von Helmut Ettinger
Rezension von Günter Kaindlstorfer


In der Nacht vom 5. auf den 6. Juni 1944 begann an der Küste der Normandie die bis heute größte Militäroperation der Menschheitsgeschichte. 175.000 alliierte Soldaten machten sich an die Eroberung des französischen Festlands. Dabei war keineswegs ausgemacht, daß die „Operation Neptune“, wie der Tarnname des Unternehmens lautete, gelingen würde. Während vor Omaha-Beach und Utah-Beach und an anderen normannischen Stränden Kämpfe von archaischer Brutalität tobten, wandte sich Franklin D. Roosevelt mit einer pathetischen Rundfunkrede an die amerikanische Bevölkerung.

OT Franklin D. Roosevelt: "In dieser ergreifenden Stunde möchte ich Sie bitten, mit mir zusammen zu beten: Allmächtiger Gott! Unsere Söhne, der Stolz unserer Nation, haben heute mit einem gewaltigen Unternehmen begonnen, mit einem Kampf, der unsere Republik schützen soll, unsere Religion, und unsere Zivilisation – und der einer leidenden Menschheit endlich die Freiheit bringen soll. Allmächtiger Gott, laß unsere Soldaten wahrhaftig und aufrecht kämpfen; gib ihren Waffen Stärke, ihren Herzen Größe und ihren Hoffnungen Unerschütterlichkeit.“

In seinem Buch über den D-Day und die Befreiung Frankreichs von der Nazityrannei zeichnet der britische Historiker Antony Beevor ein anschauliches Bild von der alliierten Armada, die am 6. Juni 1944 die Invasion der Normandie in Angriff nahm: Sechs Schlachtschiffe, vier Panzerschiffe, 23 Kreuzer, 104 Zerstörer, 152 Begleitschiffe, 277 Mienensuchoote sowie 5000 Landungsschiffe und Sturmboote wagten den Angriff auf den „Atlantikwall“. Dazu kamen drei Luftlandedivisionen mit tausenden von Fallschirmspringern, die hinter den deutschen Linien absprangen, sowie mehrere tausend B-17-, B-24- und B-26-Bomber, die von Militärflughäfen in Nord- und Mittelengland aufstiegen, um das Landeunternehmen in der Normandie mit massiven Bombenangriffen zu sichern.
Die meisten Menschen heute, sagt Antony Beevor mit einem gewissen Bedauern, beziehen ihr Wissen über den D-Day vor allem aus Kinofilmen wie dem „Längsten Tag“ oder aus Steven Spielbergs eindrucksvollem Helden-Kitsch-Epos „Saving Private Ryan“.

OT Antony Beevor: "Das Problem ist, daß die Filmindustrie und die Geschichtswissenschaft von verschiedenen Grundlagen ausgehen. Leider ist es so, daß viele junge Leute ihr geschichtliches Wissen heute ausschließlich aus dem Fernsehen oder dem Kino beziehen, und da wird doch vieles verkürzt und verzerrt dargestellt. „Der längste Tag“ ist im Prinzip ganz okay, aber natürlich konzentriert sich der Film auf die gloriosen Seiten des D-Day, er bietet, um es zynisch zu sagen, eine Art „Greatest Hits“ des 6. Juni 1944. „Saving Private Ryan“ ist brillant, aber nur in den ersten zwanzig Minuten, als Steven Spielberg die Gräuel von „Omaha Beach“ darstellt. Dann wird der Film schrecklich: Da wird jedes Kriegs-Klischee bedient, das man sich nur vorstellen kann.“

Mit Klischees arbeitete natürlich auch die deutsche Wochenschau im Frühsommer ´44.

OT NS-Wochenschau 1: "Ein Datum von weltgeschichtlicher Bedeutung: Unter dem Druck Moskaus haben Briten und Amerikaner die seit langem angekündigte und von uns erwartete Invasion begonnen. Sie findet Deutschland in Bereitschaft.“ (MUSIK schwillt an).

Wie in seinen Büchern über den Spanischen Bürgerkrieg oder die „Schlacht um Berlin“ hat Antony Beevor auch diesmal unerforschte Quellen verwertet und hunderte von Zeitzeugenberichten aufgearbeitet. Der 64jährige Brite zeichnet die Schlacht um die Normandie als Inferno von Dantescher Dimension. Beide Seiten gingen mit unerhörter Brutalität ans Werk. Gefangene wurden offenbar nur in Ausnahmefällen gemacht. Nachdem sie unter ungeheuren Opfern gelandet waren, sannen viele britische, amerikanische und kanadische Soldaten auf Rache. William E. Jones, Angehöriger der 4. US-Infanteriedivision, erstürmte mit seinen Kameraden einen Hügel.

ZITAT:
"Als wir oben waren, spielten wir verrückt...“

zitiert Beevor den GI Jones:

ZITAT:
"Einige von den Deutschen saßen noch in ihren Schützenlöchern. Da sah ich, wie mehrere direkt in den Löchern erschossen wurden. Wir machten keine Gefangenen und konnten nicht anders, als sie zu töten. Das taten wir.“

Beevor zitiert aus vielen ähnlichen Berichten und greift damit ein Tabuthema auf: Auch die Alliierten begingen in der Normandie Kriegsverbrechen in einem Ausmaß, das bisher nicht bekannt war. Verwundete Deutsche wurden per Kopfschuß umgebracht, Soldaten der Wehrmacht und Angehörige der Waffen-SS wurden von den GIs durch Minenfelder getrieben oder als menschliche Schutzschilde verwendet.
Auch die Deutschen waren nicht zimperlich, wie Beevor herausarbeitet. Auch sie ermordeten Gefangene, sie massakrierten französische Zivilisten, und sie ließen sich perfide Tricks einfallen, mit denen man dem Feind den Vormarsch erschwerte: Sie befestigten etwa Handgranaten an den Erkennungsmarken toter GIs. Versuchte jemand, die Marke abzunehmen, zerfetzte ihn die Granate. Deutsche Einheiten spannten auch Stahlseile in Kopfhöhe über französische Dorfstraßen. Brauste ein US-Jeep heran, wurde die Wagenbesatzung enthauptet.

OT NS-Wochenschau:
"In der ersten Stunde des 6. Juni, wenige Minuten nach Mitternacht, rollt die gewaltige militärische Aktion an. Die Flotten zweier Weltmächte sind mit Unterstützung großer Luftwaffenverbände im Anmarsch auf die europäische Westküste. Unter gleichzeitigen schweren Bombenangriffen setzt der Feind im Hinterland der Seine-Bucht starke Luftlandeverbände ab. Deutsche Vorpostenboote nehmen die Annäherung der feindlichen Einheiten auf und geben die Meldungen weiter.“

Antony Beevors monumentales Buch ist keine angenehme Lektüre. Auf 660 Seiten schildert der britische Historiker in multiperspektivischer Eindringlichkeit den gesamten Verlauf der „Operation Overlord“, das heißt, die Ereignisse zwischen der alliierten Landung in der Normandie und der Befreiung von Paris am 25. August 1944. Aus hunderten Einzelschicksalen montiert Beevor ein eindrucksvolles Schlachtenpanorama, ein drastisches Werk der Kriegs-Geschichtsschreibung, das noch einmal vor Augen führt, wie unerhört der Blutzoll war, der Europa die Freiheit brachte – eine Freiheit, der wir uns heute oft allzu bedenkenlos erfreuen.

Gesendet in der Sendung "Kontext", Ö1, Mai 2010








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