Louis Begley: "Der Fall Dreyfus", aus dem Englischen von Christa Krüger, Suhrkamp-Verlag, 248 Seiten, ISBN: 978-3-518-42062-1
Louis Begley: Der Fall Dreyfus
Rezension von Günter KaindlstorferÖ1, "Kontext", Mai 2009
Im Juli 1894 fand Marie Bastian, Putzfrau an der deutschen Botschaft in Paris, im Papierkorb des deutschen Militär-Attachés ein brisantes Dokument. Der Attaché hatte sich auf dunklen Wegen geheimes Material aus dem Pariser Generalstab besorgt, unter anderem über ein von den Franzosen entwickeltes 120-Millimetergeschütz und über geheime Pläne zur Invasion Madagaskars. Pech für die Deutschen: Madame Bastian, die Putzfrau, war Spionin des französischen Geheimdiensts. Anstatt das Dokument zu verbrennen, wie sie es auf Anweisung ihrer deutschen Dienstherrn hätte tun müssen, lieferte sie es auf schnellstem Wege bei ihrem eigentlichen Dienstgeber ab, dem französischen Nachrichtenbüro.
Im Pariser Generalstab brach Panik aus: Wer war der Spion, wer war der Verräter in den eigenen Reihen, das war die große Frage. Sofort fiel der Verdacht auf den einzigen jüdischen Offizier im Stab, auf Alfred Dreyfus – auf einen Unschuldigen. Der wahre Verräter Ferdinand Walsin-Esterhazy – ein hochverschuldeter, soziopathischer Aristokrat – blieb die nächsten Jahre über unentdeckt.
Louis Begley hat den berühmten Skandal rund um Alfred Dreyfus neu aufgerollt für sein neues Buch. Der in Harvard ausgebildete Jurist ist dafür in besonderem Maße prädestiniert, hat er doch jahrzehntelang eine renommierte Anwaltspraxis in New York betrieben.
OT Louis Begley: „Dreyfus war das perfekte Opfer, denn er war JUDE. In den Augen des französischen Generalstabs – und der bestand so gut wie ausschließlich aus Antisemiten – war Dreyfus kein echter Franzose. Und deshalb konnte er das Ansehen der französischen Armee in ihren Augen nicht in demselben Maße beflecken wie ein „echter französischer Offizier es getan hätte, wenn der als Verräter entlarvt worden wäre.“
Louis Begley leuchtet den Fall Dreyfus in seinem Buch noch einmal in all seinen Facetten aus. Der jüdische Artilleriehauptmann wurde aufgrund gefälschter Beweise zu lebenslanger Haft auf der sogenannten „Teufelsinsel“ verurteilt. Die Teufelsinsel, eine ehemalige Leprakolonie vor der Küste Französisch-Guayanas, ist eineinhalb Quadratkilometer groß, felsig und extrem wasserarm. Alfred Dreyfus war der einzige Häftling auf dem Eiland. Er erkrankte sofort nach seiner Ankunft an Malaria und schweren Durchfällen, und er wurde von Zugameisen, Seespinnen und anderem Ungeziefer geplagt in seiner dreieinhalb Meter mal dreieinhalb Meter großen Steinzelle. Dazu kam die vollständige Isolation, betont Louis Begley:
OT Louis Begley: „Die Bedingungen im Gefängnis waren furchtbar. Einzelhaft ist eine schreckliche Strafe, eine der schrecklichsten, die es gibt. Dreyfus hat sie fast fünf Jahre lang ertragen müssen. Die Wärter auf der Teufelsinsel durften nicht mit ihm sprechen, und er nicht mit ihnen. Er war zum Schweigen verurteilt. Der einzige Mensch, mit dem er alle paar Wochen oder Monate einige Worte wechseln durfte, war der Militärarzt, der alle heiligen Zeiten einmal von der benachbarten Ile de Royale herüberkam, um ihn zu behandeln. Sechs Wochen lang wurde Alfred Dreyfus auch mit zwei Fußeisen an sein Bett gefesselt in der Nacht, sodaß sich EITERNDE WUNDEN an seinen Knöcheln bildeten. Der Doktor, der ihn am Ende seiner Haftzeit untersuchte, meinte: ,Dreyfus ist ein erledigter Mann.`“
Und das war er wohl auch, obwohl er nach seiner Rehabilitierung 1906 noch dreißig Jahre lebte. Im Ersten Weltkrieg diente Alfred Dreyfus der französischen Armee unter anderem vor Verdun als loyaler Offizier. Eine radikalere Assimilierung, bis an die Grenzen der Selbstaufgabe, ist eigentlich nicht denkbar.
Louis Begley setzt dem Justizopfer Alfred Dreyfus in seinem Buch ein anrührendes Denkmal. Tagespolitische Brisanz gewinnt der Essay vor allem durch die Parallelen zu Abu Ghraib und Guantanamo, die Begley zieht. Guantanamo ist von der Teufelsinsel vielleicht zweieinhalb Flugstunden entfernt. Die beiden Gefängnis-Exklaven, meint Louis Begley, haben mehr miteinander gemein, als auf den ersten Blick scheinen mag.
OT Louis Begley: „Die augenfälligste Parallele ist die, daß man die Häftlinge von Guantanamo ganz ähnlich behandelt wie man Alfred Dreyfus vor mehr als einem Jahrhundert behandelt hat. Die zweite Parallele besteht darin, daß diese Häftlinge ILLEGAL interniert worden sind. Die Regierung Bush hat internationale Verpflichtungen mißachtet, und sie hat vor allem auch US-amerikanische Gesetze mißachtet, die Folter verbieten.“
Die auffälligste Parallele zwischen dem Dreyfus-Skandal und der Terror-Hysterie in den USA nach 9/11 ist allerdings die religiös-kulturelle. Dreyfus wäre NIE verurteilt worden, wenn er katholisch und/ oder adelig gewesen wäre, betont Begley in seinem Essay, und viele Guantanamo-Häftlinge haben ihre Inhaftierung einzig und allein dem Umstand zu verdanken, daß sie Muslime sind und ihren Bart zum Zeitpunkt ihrer Festnahme vielleicht etwas länger getragen haben als andere.
Beide Justizskandale, betont Louis Begley, sind nur in psychologisch verunsicherten Gesellschaften möglich gewesen.
OT Louis Begley: „Der Fall Dreyfus war ein SYMPTOM für die schwierige politische Lage damals in Frankreich. Die französische Armee litt noch immer unter der Demütigung von 1870/71, unter dem Verlust von Elsaß-Lothringen und der beschämenden Niederlage gegen die Deutschen. Das führte zu einem hysterischen Klima in der Armee. Auch Guantanamo war nur möglich in einer emotionalen Ausnahmesituation, wie sie nach den Terroranschlägen von 9/11 herrschte. Die Bush-Regierung wollte die Fehler wieder gutmachen, die sie VOR den Terroranschlägen auf das World Trade Center begangen hat. Deshalb war auf Seiten der Regierung die Begierde so groß, sich bei der Verfolgung der Terroristen „die Handschuhe auszuziehen und sich auf die dunkle Seite zu begeben“, wie Vizepräsident Cheney sich einmal ausgedrückt hat.“
Louis Begley läßt keinen Zweifel daran, daß er der „Ära Bush“ keine positiven Seiten abgewinnen kann.
OT Louis Begley: „Die Bush-Jahre haben uns enorm beschädigt. Bushs Regierung hat den Vereinigten Staaten gewaltige Schulden hinterlassen. Zum einen durch die Steuererleichterungen, die man für die Wohlhabenden durchgesetzt hat, zum anderen durch die kolossalen Kosten, die die beiden von Bush angezettelten Kriege bis heute verursachen: Der Krieg im Irak war nicht notwendig und hat den Vereinigten Staaten enorm geschadet. Der Krieg in AFGHANISTAN war ursprünglich vielleicht gerechtfertigt, weil man der Al-Kaida habhaft werden wollte, aber dieser Krieg war einfach schlecht gemanagt. George W. Bush hat die Reputation der Vereinigten Staaten beschädigt UND er ist dafür verantwortlich, daß sich die Beziehungen zu unseren Alliierten auf beispiellose Weise verschlechtert haben.“
Louis Begleys Buch zeigt auf exemplarische Weise, wie unheilvoll sich rassistische Ressentiments auch in vermeintlich liberalen Gesellschaften auswirken können. Die Mechanismen sind die immer gleichen: Rassistische Klischees führen zur Produktion von Sündenböcken und, in der Justiz, zu „Racial Profiling“, Beweise werden manipuliert, oft wandern Unschuldige hinter Gitter. Louis Begley hat ein aufrüttelndes Buch zu einem erschreckend aktuellen Thema geschrieben.
zurück nach oben