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Foto: Rober Newald

"Ich habe mich nie als schön empfunden"

Ilse Aichinger über ihre Kindheit in Wien, die lebenslange Sehnsucht nach Pfadfinderlagern und ihre Wertschätzung für Elfriede Jelinek. Von Günter Kaindlstorfer

Martin Walser scheint eine Zeitlang in Sie verliebt gewesen zu sein.

AICHINGER: Wie kommen Sie darauf?

Er schreibt irgendwo, er habe Sie in den späten 40er-Jahren als „schüchterne Dichterin von imperialem Liebreiz“ kennengelernt. Ich schließe daraus: Sie haben ihm gefallen.

AICHINGER: Welche Frau hätte Martin Walser nicht gefallen? Ich habe mich selbst nie als schön empfunden. Im Gegenteil. Ich schau bis heute nicht in den Spiegel. Und wenn ich hineinschau, denk ich mir: furchtbar. Manchmal kommt es vor, dass ich zum Friseur gehe, dann komme ich nach Hause und denke mir: Schaust halt wieder einmal in den Spiegel. Und dann denk ich mir: Ändert auch nichts.

Es ist Ihnen peinlich, auf das Thema Schönheit angesprochen zu werden?

AICHINGER: Ein bisschen. Mir ist das, was man Schönheit nennt, nicht wichtig. Es gibt Menschen, die sind von ihrer äußeren Erscheinung her schön. Die haben ebenmäßige Gesichter und gepflegte Frisuren – ihre Erscheinung entspricht dem augenblicklichen Ideal. Und dennoch: Ich habe oft festgestellt, dass diese Menschen innerlich leer sind. Ihnen fehlt das, was ich „Präsenz“ nenne. Heinrich Böll hat es „Existenz“ genannt. Er unterschied zwischen „existenten“ und „nicht-existenten“ Menschen. Ich habe bei vielen Menschen, die ich treffe, das Gefühl: Die sitzen zwar da und trinken Kaffee oder spielen Schach, sie lesen Zeitung oder unterhalten sich miteinander – aber präsent sind sie nicht. Es sind nicht die Gesichtszüge, die bestimmend sind im Leben, es ist die Präsenz. Wenn ein Mench keine Präsenz ausstrahlt, hilft auch Schönheit nichts.

Vielleicht hat Martin Walser damals ja beides in Ihnen gesehen: die äußere und die innere Schönheit?

AICHINGER: Das ist schon eine Zeitlang her.

Fällt Ihnen das schwer: Altwerden?

AICHINGER: Nein. Ich habe mich mit zwanzig wesentlich älter gefühlt als heute. Im Grunde habe ich mich nie so alt gefühlt wie mit zwanzig. Damals herrschte Krieg, die Nationalsozialisten deportierten tausende und zehntausende von Menschen in Viehwägen in den Osten, darunter auch meine Großmutter, die ich so sehr geliebt habe. Ich dachte damals: Noja - viel wird nicht mehr kommen. Seit meinem siebzigsten Geburtstag bin ich wieder ganz vergnügt. Man wird gelassener, fähiger zuzuschauen, zuzuhören. Man lernt, die Welt vom Ende her zu betrachten. Das ist etwas Schönes.

Sie sind in den 20er- und 30er-Jahren in Wien aufgewachsen. Dem berüchtigten Antisemitismus in der Stadt sind Sie früh begegnet, oder?

AICHINGER: Ja, schon als kleines Kind. Ich erinnere mich an eine Greißlerin, bei der haben meine Zwillingsschwester und ich manchmal einkaufen müssen. Wir waren noch zu klein, um über die Theke schauen zu können. Ich erinnere mich, dass die Greißlerin eines Tages auf uns gezeigt und zu den Kunden im Geschäft gesagt hat: „Das sind Juden!“ Meine Schwester und ich waren schüchterne, stille, zurückweichende Kinder. Wir haben gar nicht gewusst, was das ist: Juden. Ich habe nur gemerkt: Es kann nichts Gutes sein, was wir sind.

Wie geht’s einem Kind, das solche Erfahrungen macht?

AICHINGER: Es hat natürlich unsere Verunsicherung verstärkt. Ich war sicher kein glückliches Kind, damals, zu Beginn der 30er-Jahre. Im Gegensatz zur Nazizeit und zum Krieg: Das waren meine glücklichsten Jahre.

Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz.

AICHINGER: Im Krieg ist endlich alles deutlich geworden. Man konnte sich über die Wahrheit nicht mehr hinwegtäuschen. Alles war klar, es gab keinen Zweifel, keinen Selbstzweifel mehr. Ich wollte eigentlich als Kind schon immer – was wollte ich? – ja, ich wollte Genauigkeit. Wie auch später beim Schreiben. Schon als Kind wollte ich Genauigkeit und Präzision. Und die hatte ich nun: die Präzision des Mordens, des Ermordetwerdens, das Offensichtlichwerden der Brutalität, das empfand ich als erleichternd. Es gibt ja immer Gewalt und Brutalität auf dieser Welt, nicht nur im Krieg, ich glaube, dass die Summe der Brutalität immer gleich bleibt, ebenso wie die Summe an Barmherzigkeit und Großmut. Das Eine – die Gewalt – bleibt immer gleich groß. Das Andere bleibt immer gleich klein.

Haben Sie auch schöne Erinnerungen an das Wien Ihrer Kindheit?

AICHINGER: Oh ja. Meine Schwester und ich sind irgendwann ins „Sacre Coeur“ gekommen, eine Klosterschule im dritten Bezirk, und dort waren wir glücklich. Meine Mutter hat gearbeitet, und für meine Großmutter war das zu viel: zwei Kinder daheim. Das „Sacre Coeur“ befindet sich in einer schönen Gegend, am Rennweg. Dort trennt sich Wien in Asien und Europa, wie Metternich gesagt hat.

Das „Sacre Coeur“ ist ein elitäres Institut: Damals war es eine Ausbildungsstätte für höhere katholische Töchter.

AICHINGER: Im Grunde haben wir dort gar nicht hingepasst. Wir hatten ja kein Geld, und wir waren auch nicht von Adel. Aber die Schwestern waren sooo gut zu uns, und so behutsam, und sie haben erkannt, dass meine Schwester und ich verunsichert und schüchtern waren. Das war ein Glücksfall, dass wir dorthin gehen durften. Ich weiß nicht, wie es heute am „Sacre Coeur“ ist – ich habe nur die besten Erinnerungen daran.

Wie war die politische Orientierung bei Ihnen daheim?


AICHINGER: Meine Großmutter war nicht politisch. Sie war der gütigste Mensch, den ich je gekannt habe, sie hat alles geteilt in ihrem Leben, alles, aber Politik hat ihr nichts bedeutet. Meine Mutter dagegen war klar den Sozialdemokraten zugeneigt, sie war, noch aus ihrer Zeit in Linz, mit dem damaligen Parlamentsabgeordneten Ernst Koref befreundet – einem kultivierten Mann, der nach dem Krieg dann Linzer Bürgermeister geworden ist. Meine Mutter hat sozialdemokratisch gedacht und gelebt. Obwohl wir selbst wenig gehabt haben, hat sie mittellose Patienten als Ärztin gratis behandelt.

Was haben Sie von den Februarkämpfen 1934 mitbekommen? Waren Sie da in der Stadt?

AICHINGER: Ich war in der Stadt, aber ich habe wenig Erinnerungen an den Februar ’34. Die Kämpfe haben sich mehr an den Rändern von Wien abgespielt, weniger im Zentrum. Aber ich hatte schon so ein Gefühl - das ist auch von meiner Mutter beeinflußt worden - dass die Arbeiter etwas tun sollten. Dass sie sich von Dollfuß nicht ohne Gegenwehr entmachten lassen sollten.

Ein traumatisches Erlebnis, so kann ich mir vorstellen, war der Einmarsch Hitlers im März 1938 in Wien. Wie haben Sie den „Anschluss“ erlebt?


AICHINGER: Es war schrecklich. Die Begeisterung der Leute war unbeschreiblich. Da herrschte ein Jubel – heute kaum mehr vorstellbar. Ich kann mich erinnern, ich war tief traurig, wie alle in meiner Familie. Ich wusste zwar nicht, was für Konsequenzen das Ganze hat, aber ich dachte: Jetzt gibt es kein Österreich mehr. Das Land, in dem ich zu Hause bin, dieses Land gibt es nicht mehr. Das war ein seltsames Gefühl: Ich gehe durch dieselben Straßen wie gestern, ich wohne noch in derselben Wohnung wie gestern, aber es ist nicht mehr mein Land. Das war bedrückend.

Hatten Sie an diesem Tag Angst?

AICHINGER: Ich hatte keine Angst, ich spürte nur einen gewaltigen Zorn. Und zugleich war eine gewisse Genugtuung da, weil ich sie so schreien gehört habe, die Wiener, weil sie ihren Hass endlich aus sich herausgeschrieen haben. Ich habe mir gedacht: Ich wollte doch immer, dass alles deutlich wird. Jetzt ist es endlich deutlich.

Wie Sie und Ihre Mutter den Krieg und die Nazizeit überlebt haben – davon haben sie, indirekt, in Ihrem Roman „Die größere Hoffnung“ Zeugnis abgelegt. Ein großer Erfolg war dieser Roman, 1948 erschienen, zunächst nicht.

AICHINGER: Nein, „Die größere Hoffnung“ war alles andere als ein Erfolg. Ich weiß nicht mehr genau, ob der Verlag in den ersten drei Jahren fünf Exemplare verkauft hat oder in den ersten fünf Jahren drei Exemplare. Aber in dieser Größenordnung haben sich die Verkaufszahlen bewegt.

Berühmt wurden Sie im Jahr 1952, als Sie in der „Gruppe 47“ ihre „Spiegelgeschichte“ gelesen haben. Was war das für ein Gefühl, als junge, weitgehend unbekannte Autorin zur berühmten „Gruppe 47“ zu fahren? Empfanden Sie das als einschüchternd? 

AICHINGER: Nein, eigentlich nicht. Ich habe als Kind ja immer davon geträumt, Pfadfinderin zu werden, das war mein brennendster Wunsch: Ich wollte zu einer Gruppe gehören, wollte einfach irgendwo dazugehören, das war mein sehnsüchtigster Wunsch. Das Dumme war nur, dass wir uns die Pfadfinderuniform und die Ausrüstung, die man brauchte, nicht leisten konnten. Das war bitter.

Und die „Gruppe 47“...

AICHINGER: ... war das Pfadfinderlager, nach dem ich mich immer gesehnt hatte. Die „Gruppe 47“ hatte in der Tat etwas von einem Pfadfinderlager. Die Treffen fanden immer an merkwürdigen Orten statt, 1952 zum Beispiel in Niendorf an der Ostsee, in einem aufgelassenen Badehotel. Da bin ich gern hingefahren. Das hat so etwas Unbekümmertes, Freies gehabt. Das war schön.

An den Tagungen der „Gruppe 47“ haben viele später berühmte Leute teilgenommen: Heinrich Böll, Paul Celan, Siegfried Lenz, Karl Krolow, Ingeborg Bachmann... Welche Begegnung war für Sie die prägendste?

AICHINGER: Die zweitwichtigste Begegnung war die mit Heinrich Böll – Böll war ein generöser, wirklich großherziger Mensch. Aber die wichtigste Begegnung war natürlich die mit Günter Eich, meinem späteren Mann.

Ist er Ihnen – wenn ich so unverblümt fragen darf – gleich ins Auge gestochen?

AICHINGER: Zuerst einmal habe ich bemerkt, dass alle geredet haben, nur ganz wenige haben kaum oder gar nicht gesprochen, darunter war er. In der „Gruppe 47“ wurde ja unglaublich viel geredet. Man las sich Texte vor, und dann wurde darüber diskutiert. Natürlich auch kritisch. Alle durften sagen, was sie wollten, und sie haben auch alle gesagt, was sie wollten. Einmal bemerkte Hans Werner Richter, der Initiator der „Gruppe 47“, zu einem zurückhaltenden Mann von Anfang, Mitte vierzig, den ich kaum kannte: „Mensch, Günter, warum sagst du nichts? Mach doch auch mal den Mund auf!“ Darauf antwortete mein späterer Mann: „Ich kann nicht. Ich bin ohne jedes kritische Vermögen.“ Damit war das Thema Reden für ihn abgetan. 

Das hat Ihnen gefallen.

AICHINGER: Das hat mir eingeleuchtet, diese Schweigsamkeit. Ich habe bei Günter Eich immer das Gefühl gehabt, er habe sie, diese geheimnisvolle „Präsenz“. Wir haben dann eine gute Ehe geführt, bis zu seinem Tod 1972. Unser Zusammensein war eine große Hilfe. Wir waren uns in vielen Grundfragen einig. Jeder von uns wußte um die Gefahren und Schwierigkeiten des Schreibens.

Die zweitwichtigste Begegnung in der „Gruppe 47“ war Heinrich Böll, sagten Sie.

AICHINGER: Böll war einer der großzügigsten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Ich erinnere mich an die Frage, als mein Mann und ich einmal in einer angespannten Situation waren: „Kinder, braucht Ihr Geld?“ Wer fragte einen sowas schon? Böll hat gespürt, wenn jemand in Not war. Dann sprang er ein.

Sie haben vor kurzem (Anm: 1995) den Großen Österreichischen Staatspreis bekommen, die bedeutendste Auszeichnung der Republik. Haben Sie das als eine Art Genugtuung empfunden, in einer Stadt, in der Sie als Jugendliche so viel Schreckliches erlebt haben, einen derart wichtigen Preis entgegenzunehmen?

AICHINGER: Nein. Ich freue mich zwar über diesen Preis, nach wie vor, aber ich habe in meiner Dankesrede auch gesagt, dass jetzt - da meine Mutter gestorben ist – niemand mehr da ist, der Freude oder Stolz empfinden könnte über diesen Preis. Daraufhin hat mir die Ruth Klüger einen lieben Brief geschrieben, in dem stand: Doch, es ist jemand da, der Stolz und Freude empfindet, und das bin ich.

Das hat Sie gerührt?

AICHINGER: Selbstverständlich. Dass es liebe, mitfühlende Kolleginnen wie Ruth Klüger gibt, das ist ein gutes Gefühl. Ich denke auch an die Frau Jelinek. Die ist das Kollegialste und Netteste, was Sie sich vorstellen können, obwohl sie ja wirklich ein Star ist. Und trotzdem ist Elfriede Jelinek von einer Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft – sagenhaft.

Der wichtigste Mensch in Ihrem Leben, das haben Sie immer wieder betont, war Ihre Großmutter. Sie haben sie das letzte Mal auf der Schwedenbrücke in Wien gesehen, im Mai 1942, als sie im offenen Viehwagen in Richtung Osten abtransportiert wurde. Im Vernichtungslager Maly Trostinez ist sie ermordet worden.

AICHINGER: Meine Großmutter, ich habe es schon gesagt, war der wunderbarste Mensch der Welt. Man musste sie davor beschützen, dass sie alles, was sie hatte, hergab. Sie wollte teilen, immer teilen und immer für die Schwächeren da sein. Leider ist es so, dass sich die Dienste der Engel selten bezahlt machen. Auch die Dienste meiner Großmutter haben sich nicht bezahlt gemacht.

Die Ermordung Ihrer Großmutter – eine Wunde, die bis heute nicht richtig verheilt ist?

AICHINGER: Nein, sie ist nicht verheilt. Zugleich ist mir diese Wunde aber inzwischen eine Hilfe geworden. Ich habe Ihnen ja erklärt, warum mir das Wort „Präsenz“ so wichtig ist. Bei bestimmten Menschen habe ich das Gefühl, dass sie nach wie vor präsent sind, obwohl sie bereits seit vielen, vielen Jahren tot sind. Hans und Sophie Scholl zum Beispiel, die sind mir noch immer präsent. Und meine Großmutter auch, die ist noch absolut präsent.

Obwohl sie seit einem halben Jahrhundert tot ist?

AICHINGER: Das spielt überhaupt keine Rolle. Ich weiß, dass meine Großmutter da ist, dass ich in Augenblicken der Ratlosigkeit an sie denken darf. Und ich weiß, dass sie versucht, mir zu helfen. Das muss gar nicht wirklich so sein, vielleicht kommt das alles auch aus mir, aber das spielt keine Rolle. Tatsache ist, dass meine Großmutter bis heute  der wichtigste und „existenteste“ Mensch für mich ist.

Halten Sie manchmal Zwiesprache mit ihr: wenn Sie Probleme haben, oder wenn Ihnen das Herz schwer wird?

AICHINGER: Nein. Ich will sie nicht belasten.

Das Interview entstand im November 1995 im „Café Imperial“ in Wien. Veröffentlicht wurde es in der Zeitschrift „Falter“ am 15. November 2016.


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