Evelyn Waugh: „Verfall und Untergang“, Roman, aus dem Englischen von Andrea Ott, Diogenes-Verlag, Zürich, 300 Seiten
Evelyn Waugh: Verfall und Untergang
Rezensiert von Günter KaindlstorferORF, „Ex Libris“, Juli 2014
Armer Paul Pennyfeather: Der biedere junge Mann, Student der Theologie in Oxford, stammt aus wenig begütertem Hause. Da hat er’s unter den reichen Schnöseln nicht leicht, die ihre Oxforder Studienzeit mit arrogantem Geschwätz und exzessivem Whisky-Konsum vertrödeln. So richtig in Bedrängnis kommt der arme Pennyfeather in Evelyn Waughs köstlichem Roman aber erst, als der berüchtigte Bollinger-Club, eine Studentenverbindung millionenschwerer Stiesel, sein alljährliches Fest-Dinner veranstaltet. Evelyn Waugh, wahrer Großmeister der gepflegten Verunglimpfung, beschreibt die Personnage der Festlichkeit so:
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„In den letzten zwei Tagen waren sie nach Oxford geströmt: epilleptische Hoheiten aus den Villen ihres Exils, ungehobelte Adelige von ihren zerfallenden Landsitzen, aalglatte junge Männer mit zweifelhaften Neigungen aus Botschaften und Konsulaten, des Lesens und Schreibens kaum mächtige Gutsherren aus feuchten Granitgemäuern in den schottischen Highlands und ehrgeizige junge Anwälte und Kandidaten der Konservativen, die sich von der Londoner Saison und den plumpen Avancen der Debüttantinnen losgerissen hatten; alles, was Rang und Namen hatte, war zu dem großen Fest gekommen.“
Das Fest-Bankett des Bollinger-Clubs bietet den Studierenden aus feinsten Kreisen Gelegenheit zu geselliger Barbarei: Klaviere werden zertrümmert, unbezahlbare Porzellangeschirre zerdeppert, ein Matisse landet im Klo. Paul Pennyfeather, dem geborenen Opfer, reißen die enthemmten Kommilitonen die Kleider vom Leib, was den jungen Mann zu einem hosenlosen Sprint übers nächtliche Schulgelände nötigt. Ein Kurzstreckensprint mit Folgen: Der gedemütigte Pennyfeather – er, und nicht seine reichen Peiniger – wird des Colleges verwiesen. Der junge Mann muss sein Ränzlein schnüren; an der Pforte verabschiedet er sich vom College-Portier:
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„Leben Sie wohl“, sagte Pennyfeather, „ich werde Sie vermutlich längere Zeit nicht sehen.
„Ja, Sir“, sagte der Portier, „und das tut mir sehr leid. Jetzt werden Sie wohl Lehrer werden, Sir, das machen die meisten Gentlemen, Sir, die wegen anstößigen Benehmens relegiert werden.“
Bereits auf den ersten Seiten des Romans zieht Evelyn Waugh alle satirischen Register. Die eine oder andere Szene mag zwar slapstickhaft verblödelt sein, im Großen und Ganzen aber amüsiert man sich prächtig bei der Lektüre dieses Romans, der von Beginn an ein rasantes Tempo entfaltet.
„Verfall und Untergang“, der Titel des Buchs spielt auf Edward Gibbons Historienstudie „Verfall und Untergang des Römischen Reiches“ an, ein Werk, das Waugh während der Arbeit an seinem Erstlingsroman gewissenhaft studiert haben soll. Die Londoner Upper Class erscheint bei Waugh als verlotterte Clique zynischer Müßiggänger, wobei sich der Autor nicht nur über die Verkommenheit der britischen Oberschicht lustig macht, sondern auch über das Bildungs- und Schulsystem auf der Insel. Denn Paul Pennyfeather, der vom College Verstoßene, wird tatsächlich Lehrer, und zwar in einem Internat in Wales. Pauls erste Schulstunde: eine Prüfung.
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„Die zehn Jungen hörten auf zu reden, saßen vollkommen still da und starrten ihn an. Er spürte, wie ihm unter ihren prüfenden Blicken glühend heiß wurde.
„Als Erstes solltet ihr mir wohl eure Namen sagen. Wie heißt du?“, fragte er, an den ersten Jungen gewandt.
„Tangent, Sir.“
„Und du?“
„Tangent, Sir“, sagte der nächste Junge. Paul bekam weiche Knie.
„Aber ihr könnt nicht beide Tangent heißen.“
„Nein, Sir. Ich bin Tangent. Er macht nur Witze.“
Da meldete sich Clutterbuck von ganz hinten: „In Wirklichkeit gibt es hier nur einen Tangent, und das bin ich. Alle anderen soll der Teufel holen.“
Paul war verzweifelt: „Also gibt es hier jemanden, der nicht Tangent ist?“
Sofort meldeten sich vier oder fünf Stimmen. „Ich, Sir, ich bin nicht Tangent. Ich würde nie Tangent heißen wollen.“
Da meldet sie sich zu Wort, die künftige Elite des britischen Empire. Pennyfeather allerdings verhilft der ungeliebte Lehrerjob zu einer überraschenden Karriere: Margot Beste-Chetwynde, die Mutter eines Schülers, stinkreich und „anmutig wie ein Gedicht aus dem 17. Jahrhundert“, wie Waugh schreibt, Margot Beste-Chetwynde, aus feinstem Londoner Hause stammend, macht dem Pädagogen schöne Augen. Paul Pennyfeather, dem armen Schlucker, scheint eine glänzende Zukunft als Liebhaber und, wer weiß, als Gemahl der Milliardenerbin bevorzustehen...
Evelyn Waugh macht sich nach Kräften lustig über die High Society der Foxtrott-Ära. Die Damen trinken „Absinthe frappé“, die Herren halten Hof auf ihren Landsitzen in Sommerset oder auf den schicken Yachten, mit denen sie vor der Küste von Monte zu cruisen pflegen.
Natürlich ist Evelyn Waugh kein Klassenkämpfer. Die Kritik des bekennenden Konservativen gilt nicht nur den Reichen und Schönen der Roaring Twenties, sondern vor allem auch der Alltagskultur jener Zeit: Bauhaus-Architektur und Jazz, Frauenemanzipation und Massendemokratie, sie alle kriegen ihr Fett ab in diesem süffig-satirischen Roman. Man muss die inhaltlichen Positionen des Autors nicht teilen, um sich bei der Lektüre – bisweilen königlich - zu amüsieren.
Das Buch:
Evelyn Waugh: „Verfall und Untergang“, Roman, aus dem Englischen von Andrea Ott, Diogenes-Verlag, Zürich, 300 Seiten.
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