Die Wollust des Beherrschtwerdens
Wilhelminischer Modernist und masochistischer Klemmi: Zum 150. Geburtstag des Soziologen Max Weber. Von Günter Kaindlstorfer.Immerhin, er hat nie einen Zweifel daran gelassen, wo er steht. „Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen“, donnerte er am 13. Mai 1895 in den rappelvollen Hörsaal der Freiburger Universität, wo er seine Antrittsvorlesung als ordentlicher Professor der Nationalökonomie hielt: „Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen, fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen und Idealen.“
Max Weber, preußischer Protestant und rasiermesserscharfer Analytiker der „entzauberten Welt“, hat sich Zeit seines Lebens als Bürgerlicher verstanden, auch wenn er im Lauf seiner an Misslichkeiten reichen Biographie so manche Metamorphose durchlebt hat: Politisch wandelte sich der Spross einer Berliner Juristenfamilie vom rabiaten Imperialisten mit deutschnationaler Prägung zum radikalen Republikaner, der sich 1918/19 in der „Deutschen Demokratischen Partei“ engagiert hat, einer linksliberalen Formation, die neben der SPD zu den verlässlicheren Stützen des Weimarer Parteiensystems gehört hat.
Das alles kann man jetzt – zu Webers Hundertfünfzigstem – in zwei neuen Biographien nachlesen, wobei Dirk Kaesler, Emeritus an der Uni Marburg, die ambitioniertere und mit 1000 Seiten um einiges voluminösere vorgelegt hat. Mit weit ausholendem Gestus läßt der Marburger Soziologe das Leben Webers Revue passieren, wobei er allerdings – ein kleiner Einwand – nach einem fulminanten Eingangskapitel doch an die hundert Seiten braucht, bis Klein-Max das zweite Lebensjahr vollendet hat: Ausufernd und mit reichlich Liebe zum Detail wird die Geschichte der Weberschen Eltern und sonstiger Anverwandter dargeboten, angereichert um weitläufige Exkurse in die Sozialgeschichte des preußischen Patriziats, dem Weber entstammte. Fünfzig Seiten weniger hätten’s auch getan. Gleichwohl kann man Kaesler den Respekt, ja, eine gewisse Bewunderung nicht versagen: Der Mann schöpft aus einer imponierenden Materialfülle; mit achtunggebietendem Kenntnisreichtum und staunenswertem narrativen Aplomb breitet er Webers Leben vor seiner Leserschaft aus.
Max Weber, Jahrgang 1864, entstammte einer preußischen Beamtenfamilie: Sein Vater, ein karrierebewusster Jurist, saß als Abgeordneter der Nationalliberalen im deutschen Reichstag, Mutter Helene, eine reiche Textilerbin, ist eine fromme Protestantin, sie engagiert sich in der Armenfürsorge und kümmert sich in übergriffiger Gluckenhaftigkeit um ihre Kinder (sechs überleben das Kleinkindalter). Max’ Stellung in der Familie ist zwiespältig. Einesteils wird der Erstgeborene als Stammhalter verhätschelt, andererseits ist er das „Sorgenkind“: Mit zwei erkrankt er an einer Gehirnhautentzündung, erst nach mehrjähriger Rekonvaleszenz wird der Knabe wieder leidlich gesund, wenngleich seine körperliche Konstitution immer eine angegriffene bleiben wird. Max besucht das humanistische Gymnasium, er lernt Latein und Griechisch, seine Rolle im elterlichen Haus – einer schmucken Villa in Charlottenburg – ist klar definiert, wie Kaesler festhält: „Als ältester Sohn des Hauses half er nicht im Haushalt – er war schließlich kein Mädchen –, er ging in die Schule, und in seiner ,Freizeit’ las er. Jungen aus diesen Gesellschaftskreisen spielten nicht auf der Straße, sie gingen auch nicht allein einkaufen. Ihr Leben war eine gut wattierte Existenz ohne Überraschungen und Gefahren.“
Max ist ein einsames Kind. Trost und Gesellschaft scheint der Knabe vor allem in der Welt der Bücher zu finden. Mit dreizehn liest er Vergil, Homer und Goethe, zu Weihnachten 1878, der Weberische Stammhalter ist gerade vierzehn, findet er einen „englischen Shakespeare“ und Curtius’ dreibändige „Geschichte der Griechen“ auf dem Gabentisch. Es ist die versunkene Welt des deutschen Bildungs- und Besitzbürgertums, in die Max Weber hineinwächst, eine privilegierte Welt, die den lebenslänglichen Resonanzraum seines Denkens bilden wird. Dabei scheint es in dieser Kindheit dramatisch an Zärtlichkeit und emotionaler Zuwendung gefehlt zu haben: die klassische Sozialisation eines protestantischen Knaben im Stile der Zeit – und eine Prägung, die ihre Spuren in der Weberschen Persönlichkeit hinterlassen wird. Schon als Jugendlicher hält er fest: „Es liegt, glaube ich, etwas in meiner Natur, dass ich meine Gefühle selten anderen mitteile, es kostet mich oft Überwindung, es zu tun.“
Die protestantische Ethik und der Geist der radikalen Vereinsamung.
Dirk Kaesler macht in seinem 1000-Seiter auch die späteren Stationen der Weberschen Vita auf einprägsame Weise lebendig. Nach dem Abitur am Kaiserin-Augusta-Gymnasium in Charlottenburg studiert der junge Mann Nationalökonomie und Jura. Er tritt der Burschenschaft „Allemannia“ zu Heidelberg bei, einer schlagenden Verbindung, auf deren Paukboden er sich den einen oder anderen Schmiss holen wird. 1893 heiratet er die spätere Soziologin und Frauenrechtlerin Marianne Schnitger. Ein Jahr nach der Hochzeit tritt Weber seine erste Professur in Freiburg an. Marianne und Max führen eine kinderlose, eine ganz und gar asexuelle Ehe. Weber versucht, die erotischen Defizite – es lebe die protestantische Leistungsethik – durch manischen Arbeitseifer zu kompensieren. Er stürzt sich in die wissenschaftliche Arbeit – ein Worcaholic, der den Raubbau an seinen körperlichen und geistigen Ressourcen mit einem dramatischen Zusammenbruch bezahlen wird...
Zeitgleich mit Dirk Kaesler hat auch der FAZ-Journalist Jürgen Kaube eine laudable Weber-Biographie vorgelegt: „Max Weber – Ein Leben zwischen den Epochen“. Mit knapp 500 Seiten ist dieses Lebensbild nur halb so umfangreich wie Kaeslers Biographie, aber um nichts weniger lesenswert. Kaube nähert sich dem Stammvater der „Verstehenden Soziologie“ auf eher essayistische Weise, er schlägt Schneisen der Übersichtlichkeit in den Dschungel des Weberschen Lebens und Denkens. „Max Weber“, hält Kaube fest, „ist der typische deutsche Gelehrte, was seinen Fleiß, seinen Stil und seine Fußnoten angeht – und ein „Wutbürger“, stets geladen gegen seine Zeitgenossen, streitsüchtig, herrisch.“
Rücksichtslos war Weber vor allem auch gegen sich selbst. Seine Arbeitsmanie kannte keine Grenzen; er forschte und schrieb, schrieb und forschte. Im Sommer 1898 erlitt der rastlose Professor einen massiven Zusammenbruch. Heute würde man sagen: Er wurde zum Opfer eines Burn-Out-Syndroms, garniert mit schweren und schwersten Depressionen. Die Diagnose damals: Neurasthenie. Weber suchte Heilung in diversen Kurorten am Bodensee und auf der Schwäbischen Alb – vergebens. Einige Reisen ins Mediterrane – nach Korsika und Italien – brachten mit der Zeit dann doch so etwas wie Genesung. Zumindest gewann Weber die Fähigkeit zu wissenschaftlicher Arbeit zurück. Erst gegen Ende seines Lebens gelang es ihm dann auch, seine Bedürfnisse erotischer Art, nun ja, einigermaßen frei auszuleben.
Max Weber und der unerlöste Sexus – ein Thema, dem bereits der Bielefelder Historiker Joachim Radkau 2005 ein in der Weber-Community mit degoutierter Distanz rezipiertes 1000-Seiten-Werk gewidmet hat. Auch Kaube und Kaesler kommen um die Abgründe des Weberschen Trieblebens nicht herum, sie widmen sich dem Thema allerdings mit deutlich mehr Zurückhaltung und Takt als weiland Radkau.
Die Sache ist nämlich einigermaßen pikant: Erotische Erfüllung scheint der reife Max Weber, mit Gattin Marianne im Modus einer „Gefährtenehe“ verbunden, vor allem in außerehelichen Gefilden gefunden zu haben: ab 1912 in den Armen der Pianistin Mina Tobler – und später in jenen von Else Jaffé, einer schönen Nonkonformistin, die als eine der ersten Frauen Deutschlands auf dem Gebiet der Sozialwissenschaft reüssiert haben. Bei Else findet Max Weber jene Form der sexuellen Erfüllung, nach der er sich ein Leben lang vergebens gesehnt hat: Es ist die Wollust des Beherrscht- und Gezüchtigtwerdens, die ihm bei Else in reichem Maße zuteil wird.
Diese erotische Horizonterweiterung scheint sich segensreich auf Webers Produktivität ausgewirkt zu haben. In seinem letzten Lebensjahrzehnt - er stirbt 1920 in München – bringt der Soziologe epochale Texte über „Politik als Beruf“, die Wirtschaftsethik der Weltreligionen und andere bedeutende Werke zu Papier.
Und heute? Max Weber steht im Range eines Klassikers. Der wilhelminische Moderne-Analytiker hat sich unsterbliche Verdienste auf den verschiedensten Gebieten erworben: Die Entzauberung der Welt durch die moderne Rationalität, die Geburt des Kapitalismus aus dem Geist der puritanischen Moral, die strikte Trennung von Gesinnungs- und Verantwortungs-Ethik, all das sind Webersche Topoi, die auch dem durchschnittlich Gebildeten zumindest in groben Zügen geläufig sind.
Wie aber steht es um Webers berühmteste Schrift? In seinem in den letzten Jahrzehnten zu Tode zitierten Aufsatz „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, erschienen 1904/05, hat der Beamtensohn aus Charlottenburg den Nachweis versucht, dass zwischen protestantischer, vor allem calvinistischer Ethik und dem Beginn der kapitalistischen Industrialisierung in Westeuropa ein inniger Zusammenhang bestehe. Alles Unfug, behauptet Dirk Kaesler in seiner Biographie: Webers Schrift strotze vor historischen und theologischen Fehlern, Belege würden falsch zitiert und suggestiv arrangiert. Kurz: An der berühmten „Weber-These“ sei nichts dran. Einerseits. Andererseits stimme sie vielleicht dann doch wieder: Sie gehöre, so Kaesler, zu den „Großen Erzählungen“ der Moderne und entfalte allein schon dadurch eine nicht mehr einzudämmende Wirkung. Webers Protestantismus-Theorem, davon zeigt sich auch Jürgen Kaube überzeugt, wird bis ans Ende aller Tage nicht umzubringen sein: „Das Buch gilt als soziologischer Klassiker selbst bei denen, die kein Wort davon glauben, und es wird von denen zitiert, die kein Wort davon gelesen haben. Es hat alle seine Widerlegungen überlebt.“ Und wird wohl auch die künftigen überleben.
In der akademischen Soziologie von heute spielt Max Weber bei weitem nicht die Rolle, die man ihm als Fachfremder vielleicht zuweisen würde. Das liegt zum einen an der inzwischen kaum mehr hinterfragten Hegemonie der Empirischen Sozialforschung, die sich – methodisch hochdifferenziert – in kleinteiligen Fragestellungen zu verlieren droht: in statistischen Erhebungen zum Thema Jugendkriminalität, oder – Vorsicht, Soziologen-Joke – in aufwändigen Meinungsumfragen über das Wahlverhalten schwul-lesbischer SozialwissenschafterInnen über fünfundachtzig. Aber auch in der theoretischen Soziologie spielt Max Weber längst nicht die Rolle, die er einmal gespielt hat. Da geben andere Schulen den Ton an, die Luhmannsche Systemtheorie etwa, oder der aus der neoliberalen Ökonomie importierte „Rational-Choice“-Ansatz.
Die „Verstehende Soziologie“ Max Webers scheint im Moment keinen Auftrag zu haben. Das spricht allerdings nicht gegen Weber, wie manche Soziologen meinen. Sondern gegen die heutige Soziologie.
Dirk Kaesler: „Max Weber – Preuße, Denker, Muttersohn“, C. H. Beck, München, 1007 Seiten, EUR 39,10.
Jürgen Kaube: „Max Weber – Ein Leben zwischen den Epochen“, Rowohlt Berlin, 496 Seiten, EUR 27,80.
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