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ILSE HELBICH: Schmelzungen
135 Seiten, Gebunden, Deutsch, Literaturverlag Droschl,
ISBN-10: 3854209649,
ISBN-13: 9783854209645, Erscheinungsdatum: 14.09.2015

Ilse Helbich: Schmelzungen

Rezension von Günter Kaindlstorfer

BEITRAG:
„Das Alter ist kein Kampf“, sagt Philip Roth, „das Alter ist ein Massaker.“ Ilse Helbich würde das nicht so formulieren, auch wenn das, was sie über die Beschwernisse des Greisenalters zu berichten weiß, letztlich auf das Gleiche hinausläuft. In „Schmelzungen“ berichtet die Autorin auf illusionslose Weise davon, was das heißt: in den letzten, den allerletzten Lebensabschnitt einzutreten, einen Abschnitt, der auch bei optimistischster Betrachtung der Dinge nichts anderes sein kann als dies: ein Sein zum Tode.
Nüchtern inventarisiert die 92-jährige Autorin in ihren Aufzeichnungen die Symptome des körperlichen Verfalls: die von einer Macula-Erkrankung hervorgerufene Verschleierung des Gesichtsfelds, die Krämpfe in den Beinen, von einem Tag auf den anderen auftretend,  die Erfahrung, dass ihr die Sprache nicht mehr gehorcht, dass ihr etwa der Name der Stadt „Salzburg“ nicht mehr einfällt oder die Postleitzahl ihres Wohnorts, einer Weinbaugemeinde im niederösterreichischen Kamptal. Bar jeden Selbstmitleids konstatiert Helbich „die unglaubliche Hässlichkeit des Alters“, die sie auch an sich selbst erkennt, die „verkrüppelten, schwieligen Füße“ beispielsweise, auf denen sie einherwatschelt, diese Füße findet sie „ekelerregend“.
Es ist kein Vergnügen, in die Bezirke des hohen Alters einzutreten, da braucht man sich keine Illusionen zu machen.
Und dennoch: Ilse Helbich ist weit davon entfernt zu jammern und zu lamentieren. Im Leben eines hochbetagten Menschen, sofern er frei von Schmerzen ist, gibt es auch andere, beseligendere Aspekte, schreibt Helbich: Noch nie habe sie so viele Glücksmomente erlebt wie jetzt, in ihren allerletzten Lebensjahren. Und wie lachhaft wenig man jenseits der 90 dazu braucht, um glücklich zu sein! Oft genüge es schon, so Helbich, auf der Gartenbank vorm Haus zu rasten und den Wolken zuzusehen. Aus der gewohnten Lebensgeschwindigkeit sei sie herausgefallen, notiert die Autorin, hinein „in eine andere Art von Dasein, eines des Schauens, des Atmens ...“
Ilse Helbich erlebt das Alter – daher auch der Titel des  Bandes – als so etwas wie einen existenziellen Einschmelzprozess: „Mehr und mehr verschwimmen die Grenzen zwischen der gegenwärtigen Tatsächlichkeit und Geträumtem, Erinnertem oder Phantasiertem“, stellt sie fest, und auch die Grenzen zwischen Leben und Tod scheinen durchlässiger zu werden. „Das Gewebe der Stunden wird durchsichtiger, ist durchglänzt vom Drüben her“, hält Helbich fest, und manchmal verwandle sich diese Transparenz für Minuten zu etwas „Aufstrahlendem, das das Hier und Jetzt beinahe auslöscht“.“
Immer wieder finden sich solche fast mystischen Notate in Helbichs 130-seitiger Meditation übers Altern; diese Sequenzen erzählen von der Begegnung mit dem Jenseitigen, dem Numinosen, ohne ins Dogmatisch-Christliche oder gar Esoterische abzukippen. Es ist die Zuversicht auf ein „Gehört-, Gesehenwerden in einer anderen“, dem Menschen unvorstellbaren Sphäre, die die Autorin dann und wann zu spüren vermeint.
Dazwischen erzählt Ilse Helbich von ihrem Alltag, vom Wechsel der Jahreszeiten und den Schönheiten der Natur, von Ausflügen und kleineren Reisen, die sie in die Wachau oder auf einen Bauernhof ins Salzburgische führen. Einmal geht’s sogar noch nach Dresden, wo die 90-Jährige zusammen mit Tochter und Enkelin den mühsamen Aufstieg in die Kuppel der Frauenkirche auf sich nimmt. Die Aussicht aus luftiger Höhe ist natürlich überwältigend, und trotzdem ruft der Besuch der im Zweiten Weltkrieg schwer geprüften Stadt versunkene und längst verschüttete Erinnerungen wach, Erinnerungen an all das Verdrängte und Unaufgearbeitete, das ihre, Helbichs, Generation in abweisend-hilflosem Schweigen durch die Nachkriegsjahrzehnte getragen hat.
Ilse Helbichs Buch ist eine faszinierende Expedition in die mühsalbeladenen Gefilde des Greisenalters, auch eine poetische und zugleich wohltuend sachliche Meditation über die Herausforderungen dessen, was das heißt: bald zu sterben. Sich beizeiten darauf einzurichten – und sei es durch die Lektüre dieses schönen, lange nachhallenden Buchs - kann nicht schaden.

Ilse Helbich: „Schmelzungen“. Der Band ist im Verlag Droschl erschienen.


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