Thomas Stangl: Regeln des Tanzes
Rezension von Günter KaindlstorferORF, Ex Libris, September 2013
Das waren noch Zeiten. Als ÖVP-Kanzler Wolfgang Schüssel im Februar 2000 den europäischen Tabubruch wagte und seine Partei in eine Regierungskoalition mit Haiders FPÖ führte, gingen hunderttausende in Wien auf die Straße, um gegen die schwarz-blaue Koalition zu demonstrieren. Bernhard Henri-Lévy sprach auf dem Heldenplatz zu den empörten Massen, Christoph Schlingensief ließ ein Containerdorf der Marke „Big Brother“ vor die Staatsoper nageln und rief die Bevölkerung in einer provokanten Aktion dazu auf, Asylwerber „rauszuwählen“, und auf den Straßen Wiens marschierten Künstler und Kulturschaffende wie Robert Menasse, Marlene Streeruwitz und Michael Heltau einträchtig neben sozialdemokratischen Gewerkschaftern und auf punkig gestylten Aktivistinnen feministischer Basisgruppen. Auch der Schriftsteller Thomas Stangl, sonst ein eher introvertierter Mensch, hat seinerzeit an den Demonstrationen gegen Schwarz-Blau teilgenommen, wie eine der zentralen Protagonistinnen seines Romans:
OT Thomas Stangl:
„Ja, ja, das habe ich auch. Ich habe das damals auch als eine Art Verpflichtung gesehen, wie auch eine meiner Protagonstinnen. Ich habe auch einiges von meinen Erfahrungen die Protagonistin wieder erleben lassen. Vielleicht nimmt sie auch in einer ähnlichen Form wie ich an diesen Protesten teil: nicht im Zentrum des Geschehens, sondern als eine von vielen Demonstrantinnen. Vielleicht auch immer mit einem Fuß außerhalb des Geschehens stehend und sich selbst beobachtend.“
Die breite Protestbewegung gegen die schwarz-blaue Regierung gibt den zeitgeschichtlichen Rahmen ab für Thomas Stangls komplexen Roman. Im Zentrum des Geschehens stehen zwei ungleiche Schwestern, Andrea und Mona Stanek. Während Mona, eine Tänzerin mit manifestem Hang zur Selbstdestruktion, gegen Ende des Romans hin einen unüberbietbaren Akt des Widerstands setzt, eine „acte gratuit“, nämlich den öffentlichen Suizid, taucht ihre Schwester Andrea auf eher konventionelle Weise in die bewegten Februartage des Jahres 2000 ein.
ZITAT:
„Der Demonstrationszug scheint kein Ende zu nehmen, sie schaut ungläubig auf die aus allen Richtungen herbeiströmenden Menschen... Minutenlang steht sie da und sieht die Menschenmenge immer weiter anwachsen; dann, mit einem ganz neuen Glücksgefühl im Bauch, läuft sie weiter... Die Luft ist klar geworden. Die aus den Fenstern winkenden Leute werden immer mehr, in der Liechtensteingasse (oder ist es die Porzellangasse) ziehen sie an einem jugoslawischen Lokal vorbei, die Gäste und die Kellner kommen an die Tür und klatschen ihnen zu. Sie hat keine Ahnung, wohin sie gehen, und es ist auch vollkommen egal, der Zug hat keinen Anfang und kein Ende. Einen Moment lang glaubt sie an die Möglichkeit des Umsturzes und der vollkommenen Freiheit: Was für eine Schande, denkt sie, in einer Wohnung zu wohnen, immer die gleichen Wege zu gehen. Was für eine Schande, durch Fenster auf die Straße, in die Welt zu schauen, statt die ganze Welt in Besitz zu nehmen. Statt sich die Welt zu nehmen.“
Seine Protagonistin Andrea, so sieht es Thomas Stangl, erlebt den politischen Ausnahmezustand als beglückende Aneinanderreihung ekstatischer Momente – mit allen Ambivalenzen, die Ekstasen politischer Art mit sich bringen:
OT Thomas Stangl:
„Das ist auch eine gefährliche, zumindest ambivalente Ekstase. In einem bestimmten Moment erschrickt die Protagonistin auch vor sich selbst, als sie merkt, dass sie bereit wäre, Steine zu werfen auf ihr unbekannte Polizisten. Die Ambivalenz des politischen Ausnahmezustands darzustellen, hat mich sehr interessiert: dass es zwischen einer revolutionären Menge im positiven Sinn und einem Lynchmob oft nur ein winziger Schritt ist.“
Dass es oft nur einen graduellen Unterschied gibt zwischen Lynchmob und revolutionär enflammierter Masse, lässt sich Thomas Stangls Einschätzung nach immer wieder beobachten.
OT Thomas Stangl:
„Wenn man etwa auf den Tahrir-Platz in Kairo schaut, dann sieht man auf der einen Seite die Befreiungs-Euphorie, und wenige Meter davon entfernt, auf dem selben Platz, vergewaltigt irgendein Mob Frauen, die zufällig in ihre Hände geraten. Dieses Nebeneinander des Positivsten und des Furchtbarsten war etwas, das mich in dieser Beschreibung des Ausnahmezustands auch interessiert hat.“
In einem Ausnahmezustand befindet sich auch der dritte Protagonist des Stanglschen Romans, ein Wissenschafter namens Walter Steiner. Nachdem ihm seine Frau den Laufpass gegeben hat, fünfzehn Jahre nach dem Amtsantritt der Schüssel-Haider-Regierung, stürzt Dr. Steiner in eine existenzielle Krise. Sein Leben kommt dem unter Deperessionen leidenden Mittsechziger immer leerer, sinnloser, schaler vor.
ZITAT:
„Im Grunde fühlte er gar nichts, sein Leben gehörte nicht mehr zu seinem Leben, eine Stimme sagt ihm: Dein Leben gehört nicht mehr zu deinem Leben.“
Auf einer seiner Wanderungen durch Wien findet Dr. Steiner eine rätselhafte Filmdose, in einem Mauerspalt in einem Mietshaus irgendwo im zweiten Bezirk. Er lässt den Film entwickeln und gerät auf diese Weise, erraten, in Kontakt mit der Geschichte von Andrea und Mona, den beiden ungleichen Schwestern des Jahres 2000. Diese Wendung des Plots wirkt ein wenig konstruiert, aber um so etwas wie realistische Plots ist es Thomas Stangl in seinen Büchern ohnehin am wenigsten zu tun. Stangls Roman lässt sich vielleicht am ehesten verstehen als Tanz der Zeichen und Symbole, als phantasievolles Spiel mit verrätselten Signifikanten und kunstvoll konstruierten Querverweisen, Spiegelungen, enigmatischen Beziehungsgeflechten.
Nicht umsonst spielt das Motiv des Tanzes eine zentrale Rolle in Stangls Roman. Nach dem Tod ihrer Schwester Mona versucht Andrea der Verstorbenen näherzukommen, indem sie sich mit Butoh-Tanz zu beschäftigen beginnt und es, zumindest in den tanzinteressierten Kreisen Wiens, zu einer gewissen Bekanntheit bringt. Am Ende des Buchs, in einem surrealen Finale, betritt auch der unglückliche Dr. Steiner die Bühne eines Wiener Kleinkunsttheaters, um sich zusammen mit Andrea als Buthotänzer zu versuchen – und dadurch, irgendwie, auch zu sich selbst zu kommen.
OT Thomas Stangl:
„Butoh-Tanz ist eine Tanzform, die sehr radikal die Körperlichkeit des Tanzes in den Vordergrund stellt. Einerseits mit Bezug auf japanische Traditionen, andererseits auch unter dem Einfluß europäischer Avantgarde-Tendenzen steht – vor allem von Artauds „Theater der Grausamkeit“. Mich hat mich vielleicht vor allem daran interessiert, wie hier ein Versuch radikaler Körperlichkeit zugleich etwas Abstraktes und Individualisierendes bekommt, diese Ambivalenz im Butoh-Tanz hat mich vielleicht dazu gebracht, ihn eine so wichtige Rolle im Buch spielen zu lassen.“
Thomas Stangl ist ein hochreflektierter Autor, auch in Sachen Literaturtheorie. Seine Studienabschlussarbeit hat der 47jährige einst über dekonstruktivistische Literaturtheorie geschrieben, konkret: über Jacques Derrida und Paul de Man und die Bedeutung Walter Benjamins für die erzähltheoretischen Konzeptionen des Dekonstruktivismus:
OT Thomas Stangl:
„In gewisser Weise hat mich dieser theoretische Hintergrund längere Zeit beim Schreiben gehemmt und lange Zeit meine Texte auch scheitern lassen. Zugleich hat er mir aber auch ermöglicht, meine eigene Form der Literatur zu finden.“
Eine Form der Literatur, die vor allem fortgeschrittenen Leserinnen und Lesern ans Herz gelegt sei. Manch einen, viele, wird Stangls Roman eher ratlos zurücklassen. Wer sich allerdings auf die ästhetische Kompromißlosigkeit dieses Texts einläßt, auf die hohe Musikalität der Stanglschen Sprache und das bizarre Setting, das der Autor da auf 280 Seiten entwickelt, für den hält die Lektüre von „Regeln des Tanzes“ den einen oder anderen Glücksmoment bereit. Wie hat der alte Zarathustra einst formuliert: „Nur im Tanze weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden.“ Thomas Stangl bemüht sich, es dem altpersischen Religionsgründer mit modernen erzählerischen Mitteln gleichzutun.
Thomas Stangl: „Regeln des Tanzes“, Roman, Droschl-Verlag, Graz, 280 Seiten.
zurück nach oben