György Dalos: „Der letzte Zar – Der Untergang des Hauses Romanow“, deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla, C. H. Beck, München, 230 Seiten
György Dalos: Der letzte Zar
Rezension von Günter KaindlstorferDeutschlandfunk, Andruck, September 2017
In der Nacht auf den 17. Juli 1918 – die Szene ist oft beschrieben worden – starb Nikolai II. einen schmutzigen Tod. In einem Kellerraum in der Provinzstadt Jekaterinburg wurde der Zar mitsamt seiner Familie und mehreren Bediensteteten von bolschewistischen Revolutionären mit Schusswaffen und Bajonetten in einem blutigen, zwanzig Minuten dauernden Massaker niedergemetzelt. Das grausame Ende eines Potentaten, der 22 Jahre lang als Herrscher von Gottes Gnaden die Geschicke des russischen Reiches bestimmt hatte.
György Dalos, profunder Kenner der osteuropäischen Geschichte, bemüht sich in seiner Monographie um ein differenziertes Bild des letzten Romanow-Zaren:
OT György Dalos:
„Die kommunistische Geschichtsschreibung – wenn man sie überhaupt als Geschichtsschreibung und nicht als Propaganda versteht – versuchte, aus Nikolaus II. einen Teufel zu machen, ihn als den „blutigen Nikolai“ darzustellen. Dabei hat man die Grenzen seiner Macht übersehen. Im Gegensatz dazu versucht man jetzt in der Ära Putin, diesen Zaren heilig zu sprechen und ihn durch die Tatsache, dass er und seine Familie von den Bolschewiki tatsächlich brutal ermordet wurden, zu einem Märtyrer emporzuheben, was ich als Historiker auch nicht akzeptieren kann.“
Dalos entwirft in seiner Biographie das Porträt eines überforderten Autokraten. Der 74-jährige Ungar beschreibt den unglücklichen Nikolai als notorisch zaudernden, entscheidungsschwachen Herrscher, der den Herausforderungen der Moderne in keiner Weise gewachsen war.
OT György Dalos:
„Es war nicht einfach ein Charakterfehler, was ihn zu Entscheidungen quasi organisch unfähig machte, sondern auch seine Situation. Einerseits galt er ganz im Sinne der mittelalterlichen Auffassung als Herrscher von Gottes Gnaden, andererseits regierte er ein immer moderner und komplizierter werdendes Land – mit einer seit 1905 freien Presse und sogar mit bestimmten Formen des modernen Parlamentarismus. Und so kann natürlich kein mittelalterlicher Herrscher wirklich Entscheidungen treffen.“
Dazu kam das obskurantistische Weltbild des Zaren: Wie seine Frau Alexandra – eine gebürtige von Hessen-Darmstadt – kultivierte auch Nikolai II. einen bizarren Mystizismus, der ihn, angereichert durch üble antisemitische Ressentiments, zu einem willfährigen Opfer esoterisch-reaktionärer Einflüsterungen machte. In diesem Zusammenhang ist der mythenumwobene Mönch Grigori Rasputin zu nennen, der in der Götterdämmerung des Haues Romanow zunehmend Einfluss auf den Zaren und dessen Frau gewann. György Dalos kommt in Sachen Rasputin zu einem nüchternen Resümee:
ZITAT:
„Der Weg des ungebildeten, kaum schreibkundigen sibirischen Bauern und Wanderpredigers zum einflussreichen Akteur der russischen Politik gehört zu den Paradoxien der Endzeit der Monarchie, in der die schwungvolle Moderne und anachronistische feudale Strukturen nebeneinander existierten. Magier, Mystiker, heilige Narren und Wunderheiler, die eher an den Hof von Iwan dem Schrecklichen gepasst hätten, gaben einander in St. Petersburg und Zarskoje Selo die Klinke in die Hand.“
An Selbstbewusstein scheint es Grigori Rasputin, dem „Zarenflüsterer“, nicht gemangelt zu haben. Er duzte den Gottgesalbten und dessen Frau schon bei der ersten Begegnung – an sich ein unerhörtes Sakrileg – und nannte die beiden „Papa“ und „Mama“. Zar Nikolai war beeindruckt von diesem hageren Mann mit dem verwahrlosten, struppigen Bart und den eindringlichen, als „hypnotisch“ beschriebenen Augen.
ZITAT:
„Grigorij Rasputin, der Mönch mit dem exotischen Äußeren und der wirren, kryptischen Redeweise wurde in den feinsten Salons von St. Petersburg wohlwollend aufgenommen. Der Höhepunkt seines Erfolgs war jedoch der Einzug in die Zarenresidenz.“
Die Herrschaft Nikolais II. stand von Anfang an unter keinem guten Stern, wie György Dalos in seiner Monographie herausarbeitet. Das riesige russische Reich wurde bereits bei Nikolais Thronbesteigung 1894 von sozialen Spannungen erschüttert, Terroranschläge, Nationalitätenkämpfe und nicht endenwollende Attentat-Serien sorgten für permanente Instabilität, dazu kam die empörende Armut breiter Bevölkerungsschichten.
Nach zehnjähriger Regentschaft gab Nikolai II., ermutigt von kriegstreiberischen Kräften an seinem Hof, seine Einwilligung zum russisch-japanischen Krieg. Eine desaströse Entscheidung. Nach eineinhalbjähriegn Serienniederlagen zu Lande und zur See endet der Krieg im Herbst 1905 mit einer schmachvollen Niederlage Russlands. Erheblichen Anteil daran hatten auch die rassistischen Vorurteile Nikolais, der die Japaner für „Makaken“ hielt, also letztlich für Affen, die man militärisch und kulturell nicht ernst zu nehmen brauchte.
Der Zar war indes nicht der Einzige, der den Krieg gegen Japan betrieb. György Dalos weist auf den Einfluss der höfischen Kriegskamarilla hin.
OT György Dalos:
„Es gab einige Politiker, die eine Zeitlang zu dieser Kamarilla gehörten und teilweise später unter dem Bombenhagel von Terroristen umkamen wie der Innenminister Plehwe, die diesen Krieg wollten, indem sie behauptet haben, dass ein kleiner, kurzer, siegreicher Krieg einer Revolution vorbeugen könnte. Aber: Die Revolution war schon da. Die Arbeiterschaft in Sankt Petersburg und anderen Großstädten und auch die Bauern waren unzufrieden, und man wollte mit einem Aufpeitschen der Nationalgefühle in einem siegreichen Krieg dieser Revolution vorbeugen. Allerdings geschah das Gegenteil: Der verlorene Krieg führte dazu, dass die Revolution nun offen ausgebrochen war.“
Die Niederlage gegen Japan befeuerte den blutigen Revolutionsversuch von 1905, der den Zaren zu konstitutionellen Zugeständnissen an die linke und liberale Opposition zwang. Den finalen Untergang des Hauses Romanow besiegelte einige Jahre später der Erste Weltkrieg, der den revolutionären Affekten im riesigen Vielvölkerreich so richtig Auftrieb gab.
György Dalos konzentriert sich in seiner konzisen, gut zu lesenden Studie auf die wesentlichen Stationen der Nikolaischen Biographie. Bahnbrechend Neues erfährt man nicht in diesem Buch, das mit 230 Seiten – inklusive Anmerkungsapparat – relativ schmal ausgefallen ist. Aber: Dalos ist auf dem letzten Stand der Forschung und referiert seine Erkenntnisse in wohltuend sachlicher Form. Zarismus-Apokalypse für Einsteiger.
György Dalos: „Der letzte Zar – Der Untergang des Hauses Romanow“, deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla, C. H. Beck, München, 230 Seiten
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