Juri Andruchowytsch: Geheimnis
Roman aus dem Ukrainischen von Sabine StöhrRezension von Günter Kaindlstorfer
Selbstinterviews von Schriftstellern scheinen sich in jüngster Zeit einer gewissen Beliebtheit zu erfreuen. Man denke an Wolf Haas und seinen Roman "Das Wetter vor 15 Jahren", man denke auch an Imre Kertesz, der sein "Dossier K." vor zwei Jahren ebenfalls als kritische Selbstbefragung angelegt hat. Nun also auch Juri Andruchowytsch: "Geheimnis", das jüngste Buch des 48jährigen Ukrainers, besteht aus einem 370 Seiten langen Interview, das der deutsche Journalist Egon Alt im März 2006 angeblich mit Andruchowytsch geführt hat. Nur: Egon Alt existiert nicht, wie penible Recherchen im Internet und andernorts ergeben haben. Egon Alt kann auch gar nicht existieren, denn der Name ist ein Wortspiel: Egon Alt – Alter Ego. Kurzum: Es ist niemand anderer als Juri Andruchowytsch selbst, der sich da interviewt. Als gelehriger Schüler E.T.A. Hoffmanns hat der Ukrainer einfach eine kleine, ironische Herausgeberfiktion in seine autobiographische Selbsterkundung eingebaut.
Worum geht es in "Geheimnis"? Andruchowytsch blickt auf seine Kinder- und Jugendjahre in der westukrainischen Stadt Stanislau – seit 1962 Iwano-Frankiwsk genannt – zurück. Andruchowytschs Geburtsstadt, in der er auch heute wieder lebt, liegt in einer der mythenumwobenen Regionen der alten k.und-k.-Monarchie, in Galizien:
OT Juri Andruchowytsch: "Galizien ist eine ganz besondere Region. Sie hat mich geprägt, die alten ukrainischen Traditionen und vor allem die ukrainische Sprache Galiziens, in der ich meine Werke schreibe, das ist alles ist sehr wichtig für mich."
Obwohl Andruchowytschs Selbstinterview nur langsam in Schwung kommt: "Geheimnis" ist eine über weite Strecken interessante, auch amüsante Lektüre. Man erfährt viel über den Alltag unangepasster Jugendlicher in der Sowjetunion der sechziger und siebziger Jahre; diskret und offenherzig zugleich lässt Andruchowytsch das dickliche, schwerfällige Kind wieder lebendig werden, das er einmal war. Klein-Juri lebte mit Eltern und Oma in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung in der 200.000-Einwohner-Stadt Iwano-Frankiwsk. Fließendes Wasser und Kanalisation waren damals, Anfang der 60er, eine ferne Utopie, ihre Notdurft verrichteten die Andruchowytschs – wie die anderen Hausparteien auch – in einem hölzernen Scheißhaus im Hof. Als Volksschüler entwickelt Juri eine intensive Liebe zum Fußballsport.
Zitat:
"Alles begann mit unserem ersten Fernsehgerät, das wir Ende der sechziger Jahre bekamen. Ungefähr zu dieser Zeit nahm mein Vater mich auch zum ersten Mal mit zu den Spielen von "Hurrikan", einer der örtlichen Fußballmannschaften. Ich weiß noch, daß wir "Ölfabrik" und "Lebensmittelfabrik" mit 4:0 vom Platz fegten... Außerdem war ich Fan zweier weiterer Mannschaften – der sowjetischen Nationalmannschaft und von Dynamo Kiew."
1969 weint Andruchowytsch bittere Tränen, als Kiew das Endspiel um die sowjetische Meisterschaft gegen Spartak Moskau trotz vermeintlicher Favoritenstellung vergeigt. Neben dem Fußball spielt vor allem auch das Lesen eine wichtige Rolle in Andruchowytschs Kindheit: Neben Gogol und E.T.A. Hoffmann zählen vor allem Dostojewski und Hermann Hesse zu seinen literarischen Hausgöttern. Daneben verbringt der künftige Dichter hunderte und aberhunderte von Stunden vor dem elterlichen Radioapparat.
Zitat:
"Mit vierzehn klebte ich richtig an unserem Radio, es war ein unheimlich sperriges Röhrengerät. Auf seinen Skalen waren Dutzende von Städten markiert, darunter auch Kopenhagen, Lissabon und Edinburgh. Aber nie habe ich es geschafft, auch nur die Spur eines Senders von dort reinzukriegen – die Skala war nur Bluff."
Und so muß sich Andruchowytsch mit "Radio Free Europe", das unentwegt gestört wurde, und mit den Sendern der sozialistischen Bruderstaaten begnügen.
Zitat:
"Auf Mittelwelle kriegte ich die Rumänen rein und englischsprachige Sendungen von "Radio Luxemburg", aber es war kaum was zu hören, und die Frequenz flutschte immer wieder weg. Dafür konnte ich auf der Langwelle ziemlich gut Polen empfangen. Dort lief mehr westlicher Rock\'n\'Roll als bei den Rumänen, daher hörte ich irgendwann den lieben langen Tag ,Radio Polen\'."
Auch wenn das pubertierende Dickerchen Juri Anruchowytsch mit vierzehn, fünfzehn über so etwas wie Sex Appeal kaum verfügte, begann er sich doch auch für Mädchen zu interessieren. Eine zu jener Zeit noch eher einseitige Angelegenheit.
Zitat:
"Ich haßte Spiegel, haßte mein Spiegelbild, diese entsetzlichen Hosen. Wie konnte so eine Vogelscheuche überhaupt daran denken, den Mädchen zu gefallen? Und das war doch das Wichtigste auf der Welt: den Mädchen zu gefallen? Ehrlich gesagt, war es die Hölle. Ich finde überhaupt, daß Kindheit und Jugend hauptsächlich die Hölle sind."
In der zehnten Klasse gelingt Andruchowytsch dann doch der Durchbruch, wenn auch nicht in Sachen Erotik, so doch zumindest in Sachen Selbstsicherheit: Juri beginnt zu tanzen, mit Mädchen zu reden, Alkohol zu trinken. Er schwänzt die Schule und hört auf, seine Hausaufgaben zu machen – die ganz normale Entwicklung paarungsbereiter männlicher Teenager also. Und dann beginnt Andruchowytsch auch noch Gedichte zu schreiben, was seine Chancen beim anderen Geschlecht exorbitant erhöht. Die ersten drei Titel seiner Publikationsliste sind folgerichtig Gedichtbände.
OT Juri Andruchowytsch: "1991 habe ich aufgehört, Gedichte zu schreiben. Ich dachte, es wäre für einen Mann von über 30 lächerlich, weiterhin zu dichten. Ein Gedichtband, 2004, das war noch ein Rückfall. Mittlerweile ist mir klar: Die Prosa liegt mir mehr als die Poesie."
Und in klarer, farbiger, präziser Prosa berichtet Juri Andruchowytsch in "Geheimnis" von seiner frühen Hochzeit, der grässlichen Militärzeit in der Sowjetarmee und von den spektakulären Erfolgen der von ihm mitbegründeten Performance-Gruppe Bu-Ba-Bu, die von 1985 an die ukrainische Kulturszene unsicher macht.
Privates und Politisches greifen eng ineinander in diesen Memoiren, deren zeitlicher Bogen von den Chruschtschow-Jahren bis zur orangen Revolution von anno 2004 reicht.
Aber Obacht, man darf nicht alles allzu wörtlich nehmen in diesem Selbstinterview: Alle handelnden Personen, behauptet Andruchowytsch im Vorwort, seien frei erfunden. Eine frei erfundene Autobiographie? Sogar das wäre einem begnadeten Flunkerer wie Juri Andruchowytsch zuzutrauen.
Buchhinweis:
Juri Andruchowytsch: GEHEIMNIS
Roman, Suhrkamp Verlag (2008), 387 Seiten, ISBN-10: 3518420119.
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