Elfriede Kern: Tabula Rasa
Vier ErzählungenRezension von Günter Kaindlstorfer
Wer Elfriede Kerns frühere Bücher gelesen hat, wird sich in diesen Erzählungen auf vertrautem Terrain wiederfinden. Erneut entführt uns die Autorin in jene düster-diffusen Grenzbezirke zwischen Traum und Wirklichkeit, in denen auch ihre früheren Texte angesiedelt sind, wieder geht es um die Mechanismen der Macht, die zwischen ihren seltsam verstörenden Figuren wirksam werden. In der ersten von insgesamt vier Geschichten, "Aufbrechen" heißt sie, geht es um eine namenlose junge Frau, die eines Tages ihre Wohnung verlässt, um sich in einem Akt von Landstreicherei auf die Suche nach..., ja wonach eigentlich, zu begeben. Sie lernt einen jungen Mann kennen, einen eigentümlichen Menschen; mit ihm durchstreift sie Wiesen und Wälder. Der junge Mann trägt eine Botentasche mit sich, in der er ein geheimnisvolles blaues Ding aufbewahrt. Genauso wird es von Kern beschrieben: als "blaues Ding". Am Ende bringt sich die Protagonistin in den Besitz dieses Gegenstands, von dem wir nie erfahren, worum es sich dabei eigentlich genau handelt.
Die letzten beiden Sätze der Erzählung lauten: "Ich habe mich seitlich am Wegrand ins Gras gesetzt und meine Hand mit dem blauen Ding darin vor meine Augen gehoben. Ich habe es lange betrachtet und mir gedacht, dass sich alle Unbill gelohnt hat." Aus, Ende. Elfriede Kern lässt uns mit diesen Schlußsätzen allein. Analysen und Deutungen werden nicht angeboten, nicht einmal in Ansätzen. Das Aussparen und Weglassen interpretierender Details hat Elfriede Kern einer eigenwilligen und durchaus irritierenden Kunstform erhoben. Auch das Motiv der Vagantengeschichte, das in diesem Text anklingt, werden Kern-Leserinnen und –Leser aus früheren Büchern der Autorin kennen. Das Glück der Heimkehr ist den Kernschen Landstreicherinnen und Vaganten in der Regel nicht vergönnt.
OT Kern: "Nein, sie kommen nicht nach Hause. Wenn ich mit ihnen fertig bin, sind sie so versehrt... ein Warten auf den Tod... Es gibt keine Rückkehr, und es gibt kein glückliches Ende, das gibt es nicht."
Immer wieder versuchen Elfriede Kerns Protagonistinnen – oft weiß man nicht, sind es Männer, sind es Frauen – auszubrechen aus kleinbürgerlicher Enge und kryptosadistischer Kontrolle. In der Regel misslingen diese Ausbrüche, der Traum von der Freiheit endet stets in neuer Abhängigkeit. "Inschrift" heißt die zweite Erzählung des Bandes: Die Protagonistin, ein junges Mädchen, erlaubt sich kleine Fluchten aus den "familienähnlichen Verhältnissen", in denen zu leben sie gezwungen ist. Sie treibt sich in Kinos und einem heruntergekommenen Café herum, sie holt sich ihr Mittagessen bei der Essensausgabe der Barmherzigen Schwestern und hockt stundenlang auf den Stufen eines großen Einkaufszentrums. Eines Tages lernt sie einen jungen Mann kennen, einen innerlich versehrten Menschen wie sie, der sich mit seinem Messer gewohnheitsmäßig Schnittwunden an den Unterarmen zufügt. Er unterweist die Protagonistin in der Kunst der gezielten Selbstverletzung. Die junge Frau erweist sich als gelehrige Schülerin: Sie schneidet sich die Haut am Unterarm auf und beobachtet interessiert das Muster der Blutstropfen auf dem Boden. So endet Erzählung zwei. Wie alle Kernschen Figuren bewegt sich auch die Heldin dieser Geschichte in einer seltsam klaustrophobischen, einer ganz und gar autistischen Welt.
OT Kern: "Ja, sie sind, denke ich, in einem hohen Maß autistisch, meine Figuren... unbefangenen Blick auf ihre Umwelt zu haben."
Es ist ein karges und kantiges Erzählen, das Elfriede Kern in ihren Texten kultiviert. Ein Stil, der nicht nur auf jubelnde Zustimmung stößt. Bei Lesungen werde sie immer wieder mit verstörten Reaktionen konfrontiert, erzählt die Autorin. So nach dem Motto: Wie kann eine FRAU derartig abgründig schreiben?
OT Kern: "Es ist immer noch so, dass man den Frauen abfordert eine gewisse Einfühlung, eine Liebe zu den Mitmenschen... nicht in den Büchern zumindest."
Vier Geschichten umfasst Kerns Erzählband; die ersten drei, keine mehr als fünfzehn, sechzehn Seiten lang, bilden eine Art Präludium zum eigentlichen Haupttext, der mehr als hundertseitigen Erzählung "Ruth schläft". Als Mitglied einer abgehalfterten Zirkustruppe zieht sich Ruth, die Ich-Erzählerin, mit der Akrobatin Blanka in ein entlegenes Winterquartier auf dem Lande zurück. Nachts schaben wilde Tiere an der Hauswand, die Atmosphäre ums Haus ist durchaus unheimlich. Was treiben die beiden Frauen in der ländlichen Einsamkeit? Ruth soll Blanka für die Frühjahrssaison trainieren. Die Artistin leidet allerdings an Narkolepsie, einer Krankheit, bei der die Patienten unwillentlich immer wieder in tiefe Schlafzustände fallen. Trainerin Ruth sieht sich gezwungen, ihre Freundin aufs grausamste zu schikanieren, damit sie im Frühjahr ein glanzvolles Comeback in der Manege feiern kann. Die Logik von Beherrschung und Unterwerfung bestimmt den ganzen Text, mit "Ruth schläft" hat Elfriede Kern ein Lehrstück über die Dressierbarkeit des Menschen vorgelegt.
Die 53jährige Autorin darf in der österreichischen Literaturszene mittlerweile als durchgesetzt gelten. Mit ihren Romanen "Schwarze Lämmer" und "Kopfstücke" sowie mit "Etüde für Adele und einen Hund" hat sich Elfriede Kern zum Teil durchaus enthusiastische Kritiken und eine eingefleischte Fangemeinde erschrieben. Leider erreichen die vier Erzählungen des vorliegenden Bandes nicht ganz die Qualität der Kernschen Romane. Die sture Verwendung der Perfekt-Form in der ersten Geschichte wirkt ermüdend – "ich habe mich aus ihrem Griff befreit, ich habe die Frau beiseite gestoßen und habe meinen Essensvorrat an mich genommen" usw. Außerdem entwickeln die Erzählungen nicht den Sog der Romane, die man, ein Charakteristikum der Kernschen Erzähltechnik auf der "langen Strecke", nicht und nicht beiseite legen kann, ehe man sie ganz zu Ende gelesen hat. Elfriede Kern scheint ihre Talente vor allem im Romangenre ausspielen zu können; die Erzählungen haben gewiß ihre Qualitäten – die verstörende Kraft der "Schwarzen Lämmer" oder der "Kopfstücke" erreichen sie nicht.
Buchhinweis:
Elfriede Kern: TABULA RASA
Erzählungen, Verlag Jung und Jung (2003), 180 Seiten, ISBN: 3902144610.
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