George Saunders: „Lincoln im Bardo“, aus dem Englischen von Frank Heibert, Luchterhand-Verlag, 448 Seiten
George Saunders: Lincoln im Bardo
Rezension von Günter KaindlstorferBayerischer Rundfunk, Diwan, Juni 2018
Ein Schuss Irrsinn hat noch keiner Geschichte geschadet. Und an Verrücktheiten und bizarren Einfällen mangelt es nicht in diesem Roman, der einen tragischen Tiefpunkt im Leben Abraham Lincolns zum Thema hat: In der Nacht auf den 21. Februar 1862, während sich in den Festsälen des Weißen Haues hunderte Gäste des Präsidentenpaars auf einem Schlemmerbankett die Bäuche mit Rebühnhern, Fasanen, Virginia-Schinken und Austern füllen, stirbt im sogenannten „Prince-of-Wales“-Schlafzimmer der Residenz der elfjährige Sohn Abraham Lincolns, Willie, unter schrecklichen Qualen.
OT George Saunders:
„Das Buch basiert auf einer Geschichte, die ich vor Jahren gehört habe: Während seiner Amtszeit ist Präsident Lincolns elfjähriger Sohn an Typhus gestorben und die Zeitungen schrieben damals, dass Lincoln so verzweifelt war, dass er nachts auf den Friedhof gefahren ist und dort in der Krypta den Leichnam seines Sohnes im Arm gehalten haben soll. Und in dieser Nacht spielt mein Buch.“
George Saunders hat eine außergewöhnliche Form für seine 440-seitige Groß-Elegie auf Willie Lincoln gefunden. Saunders’ Roman spielt zu wesentlichen Teilen im sogenannten Bardo – jenem sagenhaften Zwischenreich zwischen Diesseits und Jenseits, in dem die Seelen der Verstorbenen dem „Tibetischen Totenbuch“ zufolge eine Zeitlang verweilen müssen. Saunders Roman besteht einerseits aus Monologen, Dialogen und Gesprächen der Toten, die das Schicksal von Willie und Abraham Lincoln kommentieren, andererseits – der zweite erzählerische Strang – ist das Buch eine Collage aus Zeitzeugenberichten und, echten oder gefakten, Zitaten aus Lincoln-Biographien.
Er sei sich lange nicht sicher gewesen, so George Saunders, ob er sich aus der umfangreichen Sekundärliteratur zum Thema Abraham Lincoln einfach bedienen dürfe:
OT George Saunders:
„Ich fragte mich, kann ich das machen, einfach so wie im Hip-Hop, Zitate aus Geschichtsbüchern zu sampeln. Natürlich kann ich das, hab ich beschlossen, weil das MEIN Buch ist. Ich habe also die für meinen Roman relevanten Abschnitte abgeschrieben, sie mit der Schere in kurze Absätze zerschnitten und in tagelanger Arbeit arrangiert.“
Und so sind es zwei „Chöre“, die in George Saunders’ Roman gegeneinander antreten: einerseits die Stimmen der Toten, die man sich nicht allzu feierlich vorstellen darf, da wird in irdischer Dissonanz wild durcheinander gezetert, gejammert und geschnattert; andererseits sind es die Stimmen der Zeitzeugen und Lincoln-Biographen, die Saunders geschickt ineinander montiert hat. Dass sich die historischen Stimmen oft widersprechen, hat einen interessanten Effekt: Auf die Geschichtsschreibung, so schließt der Leser, ist kein Verlass. Die EINE unhinterfragbare Historie gibt es nicht. Was es gibt, ist ein verworrenes, polyphones, in sich widersprüchliches Durcheinander von Stimmen, aus dem sich jeder das heraussuchen kann, was ihm gefällt.
Und auch Willie Lincoln, der tote Elfjährige, kommt immer wieder zu Wort in Saunders’ Roman:
ZITAT WILLIE LINCOLN:
„Mutter sagt ich krieg was von der Stadt aus Süßigkeiten Wenn ich erst wieder auf den Beinen bin Sie hat mir einen Fisch aus Schokolade und eine Biene aus Honig aufgehoben Sagt eines Tages werde ich ein Regiment kommandieren In einem prächtigen alten Haus wohnen Ein süßes & kleines Mädchen heiraten Und selbst ein paar kleine Kinder haben Haha ... Ich muss bleiben Ich will doch schließlich nach Hause Wann werde ich Wann darf ich Nie wenn schwach Vielleicht wenn stark.“
Der geniale Short-Story-Autor George Saunders war sich lange Zeit nicht sicher, ob er sich in seinem sechsten Lebensjahrzehnt noch auf dem Feld des Romans versuchen sollte:
OT George Saunders:
„Ich habe dieser Geschichte lange widerstanden, weil ich mich dagegen wehrte, einen Roman zu schreiben. Als überzeugter Kurzgeschichtenautor waren Romanciers für mich immer Menschen, die es nicht schaffen, zu einem Ende zu finden. Außerdem habe ich bemerkt, dass auch bei mir, wann immer ich die Möglichkeit habe, mich auszudehnen, die Energie des Textes schnell nachlässt. Das Bild für mein Schreiben war immer eine dieser kleinen Aufziehfiguren, die man auf den Boden stellt, und die gleich darauf unter der Couch verschwinden, und das war’s dann auch schon wieder.“
Diesmal bewährt sich George Saunders auch auf der langen Strecke. Wobei man betonen muss: „Lincoln im Bardo“ ist eine doch eher anspruchsvolle Lektüre, kein Roman, der sich süffig weglesen lässt wie Gängiges von Jonathan Frantzen oder John Irving. Vor den Genuss haben die Götter auch in diesem Fall – wie so oft bei bedeutender Literatur – den Schweiß gesetzt.
George Saunders: „Lincoln im Bardo“, aus dem Englischen von Frank Heibert, Luchterhand-Verlag, 448 Seiten.
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