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Maitage

Beginn der Titelgeschichte aus dem Erzählband „Maitage“

Kurz vor Mittag gab es noch einmal Fliegeralarm. Ein paar Thunderbolts donnerten über den Fluss und die Schindeldächer der Altstadt hinweg und drehten in Richtung Süden ab. Seither war es ruhig in der Stadt. Die letzten Gebirgsjägereinheiten hatten sich am Morgen in Richtung Wildener Tauern zurückgezogen, wenig später waren ihnen die westlich von F. stationierten Verbände der SS-Panzerdivision Wartburg gefolgt. So war denn alles für die Katz gewesen, dachte Hartmut, als er den Mittagstisch deckte, Suppenteller und das Besteck mit den Emaillegriffen. Die Schanzarbeiten, zu denen seine Jungvolk-Gruppe in den letzten Tagen verdonnert worden war, hätten sie sich auch sparen können: Keine Sekunde lang hatten die Panzerlöcher, die sie in der Nähe des Rangierbahnhofs ausheben mussten, zur Verteidigung der Stadt gedient.
„Starr keine Löcher in die Luft“, wies ihn die Mutter zurecht. „Wir wollen essen.“ Sie stellte die Terrine auf den Tisch. Es gab Erdäpfelsuppe, wie so oft in den letzten Tagen, eine dünne, wässrige Brühe mit ein paar Fettaugen obenauf. Seine Mutter, die in den letzten Tagen immer gereizter geworden war, füllte ihre Teller mit Suppe, dann stellte sie die Schüssel zurück auf den Herd und setzte sich ihm gegenüber.
Sie hatten gerade zu essen begonnen, als das Dröhnen von Panzern hörbar wurde, zuerst als leises, entferntes Grollen, dann immer deutlicher als ratterndes Scheppern und Rumpeln und Rasseln draußen auf dem Hauptplatz. Die handgeschliffenen Kristalle des böhmischen Lusters über dem Esstisch begannen leise zu klirren. Hartmut legte den Löffel beiseite, horchte. Seine Mutter aß mit unbewegter Miene weiter.
„Ich glaube, sie sind da“, sagte er.
„Iss“, sagte sie.
„Darf ich ans Fenster?“
„Hörst du nicht? Du sollst essen!“
Hartmut nahm einen Löffel Suppe, lustlos, dann noch einen. Jetzt füllte das Rasseln der Raupenketten draußen auf dem Kopfsteinpflaster das ganze Esszimmer aus, fast hätte man meinen können, die Panzer rollten geradewegs durch die 140-Quadratmeter-Wohnung. Auf dem Platz draußen waren vereinzelte Schreie und Bravorufe zu hören, eine Männerstimme brüllte etwas wie „Welcome to the Americans“. Jetzt hielt es Hartmut nicht länger auf seinem Platz. Mit einem Satz war er am Fenster. Über den Hauptplatz – vor ein paar Jahren in Adolf-Hitler-Platz umbenannt – marschierten hundert, vielleicht hundertzwanzig Soldaten in olivgrünen Uniformen, flankiert von Jeeps und einigen langsam übers Kopfsteinpflaster rumpelnden Sherman-Panzern. Er zog die Gardine zur Seite, machte das Fenster auf, beugte sich hinaus, um besser zu sehen. Die Marschordnung der Amerikaner verblüffte ihn. Ein bisschen nachlässig, fast lümmelhaft latschten die Invasoren über den Hauptplatz. Kein Vergleich mit dem geometrisch choreografierten Stechschritt, den er vor ein paar Jahren auf der großen Heldengedenkfeier in Linz gesehen hatte, als Ehrenabordnungen von SA und SS – sein Vater mittendrin – an einem klirrend kalten Februartag über die Landstraße paradiert waren.
Seine Mutter ging zum Herd, nahm den Schöpflöffel, goss seelenruhig noch etwas Suppe in ihren Teller. „Iss weiter“, sagte sie. „Gaffen kannst du später auch noch.“
Auf dem Hauptplatz hatten sich vielleicht zweihundert Menschen eingefunden, darunter einige Zwangsarbeiter aus den nahe gelegenen Wolff-Werken. Die meisten winkten mit weißen Taschentüchern, einige verfolgten den Einmarsch der Amerikaner mit teilnahmslosen Gesichtern, einige wenige wirkten deprimiert – aber vielleicht bildete sich das Hartmut auch bloß ein. Da und dort waren auch Männer vom Widerstand zu sehen, man erkannte sie an ihren rot-weiß-roten Armbinden und den 98er-Karabinern über den Schultern. In den letzten Wochen hatten die Widerständler mit kleineren Sprengstoffanschlägen und Sabotageakten in den Bergen von sich reden gemacht. In den Augen seiner Mutter waren die Leute rund um den Kommunisten Steinkogler, einen ehemaligen Vorarbeiter der Wolff-Werke, kriminelles Gesindel, mit dem man beizeiten kurzen Prozess hätte machen müssen.
Hartmut erkannte auch einige Schulkameraden unten auf dem Platz, den Ramsauer Erich, den Loidl Hubert. Er wäre am liebsten zu ihnen runtergelaufen, um sich das Spektakel mit ihnen zusammen aus der Nähe anzuschauen.
„Hast du nicht gehört?“, sagte die Mutter. „Setz dich! Die Suppe wird kalt.“
„Da kommen noch mehr Panzer“, sagte er. „Das musst du dir anschauen, Mutti!“
„Ach, lass mich!“
„Mensch, Mutti, da sind richtige Neger dabei!“
Sie legte den Löffel zur Seite, stand mit einem verächtlichen Schnauben auf, trat neben ihn ans Fenster. Vom nordwestlichen Stadttor kommend rollten weitere Panzer heran, einer der Tanks, der vorderste, schwenkte langsam den Geschützturm hin und her. Hartmut fragte sich, wozu das gut sein sollte, den Amis musste doch klar sein, dass niemand mehr auf sie schießen würde.
Mit zusammengepressten Lippen beobachtete die Mutter das Schauspiel. Besonders erbitterten sie die vielen Jubler, die vor dem Ami im Staube krochen, wie sie sich ausdrückte. Hartmut erkannte die Hornigs von nebenan, auch Dr. Kern, den Apotheker, der ihm früher immer Waldmeisterbonbons zugesteckt hatte, wenn er Hustensaft oder für seine Mutter eine Packung Emser Pastillen in der Apotheke Zum schwarzen Adler gekauft hatte. Auch Frau Niedermeier vom Kurzwarengeschäft Knapp stand unten am Hauptplatz, sie ließ sich dazu hinreißen, einen Blumenstrauß in Richtung der Panzer zu werfen.
„Jetzt kriechen sie aus ihren Löchern“, sagte die Mutter mit tonloser Stimme. „Gut, dass dein Vater das nicht mehr erleben muss.“
Die Panzer stoppten vor der Pestsäule, auch die Jeeps kamen zum Stehen. Ein Uniformierter und ein paar Widerständler sprangen von einem der Geländewagen, sie begannen mit einer Gruppe von Männern vor dem Rathaus zu sprechen, offenbar führten sie irgendwelche Verhandlungen. Ein paar GIs pflanzten sich vor dem Bürgermeisteramt auf, dort war, wie an vielen anderen Häusern, eine weiße Fahne aufgezogen. Einige Soldaten lehnten am Haupttor, musterten die Umstehenden. Hartmut und seine Mutter beobachteten einen schwarzen GI in einem der Jeeps, er zündete sich lässig eine Zigarette an, während eines seiner Beine aus dem Wagen baumelte.
„Und so etwas hat uns besiegt“, sagte seine Mutter. Sie wandte sich ab, begann den Tisch abzuräumen. Hartmut beobachtete, wie Ramsauer und Loidl unten mit einem GI in Verhandlungen traten. Sie wollten ihm einen Kaugummi abschwatzen oder etwas in der Art.
„Hör endlich auf zu glotzen“, blaffte die Mutter, „geh runter in den Hof und hol Holz, aber ein bisschen plötzlich!“
Er war diesen Ton gewohnt. Seit er sich erinnern konnte, hatte er in einer Welt der Zurechtweisungen und der knappen Kommandos gelebt. Er fragte sich manchmal, wen seine Mutter herumkommandiert hätte, wenn es ihn nicht gegeben hätte. Er tröstete sich damit, dass sie mit dem Personal der Heil- und Pflegeanstalt Eichenhof vermutlich nicht anders umgesprungen war, von den Patienten da oben ganz zu schweigen. Bis zur Schließung der Anstalt vor eineinhalb Jahren hatte seine Mutter als ärztliche Leiterin im Eichenhof gearbeitet. Er konnte sich plastisch vorstellen, was für ein Schreckensregiment sie dort geführt hatte, bis die Patienten dann, im Oktober ’43, in eine größere Anstalt irgendwo im Würtembergischen verlegt wurden.
„Und bring Frau Rainer die Schnittbögen hinunter, die sie mir letzte Woche gebracht hat“, sagte die Mutter. „Sie müssen drüben auf dem Diwan liegen.“
„Ist gut.“ Er holte die Schnittbögen, nach denen sich seine Mutter am Wochenende aus dem Stoff eines älteren Kleids ein neues geschneidert hatte, dann ging er hinunter ins Erdgeschoß zu Frau Rainer. Er klingelte, man hörte schlurfende Schritte, eine ältere, grauhaarige Frau in Kittelschürze öffnete.
„Heil Hitler, Frau Rainer. Ich bringe die Schnittbögen zurück.“
„Mit ,Heil Hitler‘ wäre ich jetzt vorsichtig, Hartmut. Es hat sich ausgehitlert.“
„Ach so, ja.“ Er trat verlegen von einem Bein auf das andere.
„Ein Jammer, dass das alles so kommen musste, findest du nicht? Was sagt denn deine Mutter dazu?“
„Begeistert ist sie nicht gerade.“
„Kann ich mir vorstellen. Magst du reinkommen?“
„Ich kann nicht, Frau Rainer. Ein andermal gern.“
„Schon gut, Hartmut. Bestell deiner Mutter schöne Grüße.“
„Mach ich, Frau Rainer.“
Er ging in den Hinterhof. Hier war der Garten, den sich die Hausparteien teilten, ein großer Garten, fünfzig mal fünfzig Meter im Geviert. Das Gelände war in sieben gleich große Grundstücke aufgeteilt, auf denen Wintergemüse, Salat, Kohlrabi, Karotten, Erdäpfel angebaut wurden. Am hinteren Ende, bei Theos Kaninchenställen, stand der Holzschuppen. Er öffnete das Vorhängeschloss, rüttelte an der Tür, die immer klemmte, betrat den Verschlag. Ein Geruch von Staub und Sägespänen lag in der Luft. Er zog die Axt aus dem Hackstock, angelte sich ein Scheit vom Stapel, begann ohne Eile Holz zu hacken, eine Arbeit, die er gern machte. Früher hatte das Holzhacken immer sein Vater übernommen, seit er nicht mehr da war, war Hartmut diese Aufgabe zugefallen.
„Hee, pssst!“ Er unterbrach seine Arbeit, horchte. Von einem der Hoffenster drang ein Pfiff zu ihm herunter. Er trat vor den Schuppen. Die Sonne blendete ihn, als er raufschaute. Er hielt sich die Hand vor die Augen. Es war sein Freund Theo. „Stark, was sich da grade abspielt in der Stadt“, sagte Theo. „Was meint’n deine Mutter dazu?“
Harmut antwortete nicht, er zucke bloß die Achseln.
„Klar, sicher, kein Jubeltag für euch. Wie geht’s meinen Hasen? Alles in Ordnung bei denen?“
Hartmut warf einen Blick in die Kaninchenställe. Fredi, Fritz und Lauser drängten sich ans Gitter, glaubten wohl, sie bekämen zu fressen. „Tut mir leid, Freunde, ich hab nix für euch“, sagte Hartmut, während er in die Hocke ging, um die Kaninchen zu streicheln. Die Barthaare der Tiere vibrierten, ihre rosa Nasen schnupperten hektisch ins Leere. Es roch anheimelnd nach Kaninchenstall.
„Den Viechern geht’s gut, soweit ich das überblicke“, sagte Hartmut. „Bisschen frisches Heu bräuchten sie.“
„Bring’ ich ihnen am Abend“, sagte Theo. „Was machst’n du am Nachmittag?“
„Was soll ich groß machen? Lesen, mit meiner Mutter Karten spielen, keine Ahnung.“
„Hol mich um zwei ab. Wir schauen uns in der Stadt um. Feindbeobachtung. Was meinst du?“



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Buchpräsentation, "Tiempo Nuevo", Wien, 21. September, 2010
Buchpräsentation Wien: "Czernin"-Programmchefin Eva Steffen spricht einführende Worte
Günter Wels liest aus "Maitage"
Gespanntes Interesse bei der Lesung