Günter Wels
Czernin Verlag
Preis: EUR 19.80
ISBN: 978-3-7076-0325-5
Seiten: 274
Ausstattung: Hardcover SU
Format: 12,5 x 19 cm
Hotel Maritime
Beginn einer Geschichte aus dem Erzählband „Maitage“
Er verbrachte die Ferien in einem der Sommerhäuser seines Vaters, einem versteckt gelegenen Anwesen direkt am Meer. Wenn man morgens unter den Schreien der Möwen auf den Bootssteg hinaustrat, konnte man die Silhouette der Stadt auf der anderen Seite der Bucht erkennen. Vor einiger Zeit hatte ihm sein Vater ein kleines Segelboot gekauft, eine kompakte, leicht zu steuernde Jolle, mit der er täglich eine abgeschiedene, westlich des Dorfs gelegene Felsbucht ansteuerte.
An diesem Morgen, Estella und sein Vater schliefen noch, stand er früher auf als gewöhnlich. Er frühstückte im Stehen, ein Glas Milch, ein paar Bissen Baguette, dann füllte er die Feldflasche mit kaltem Wasser, packte Angelzeug und Proviant in seine Segeltasche und trabte die lange, natursteinerne Treppe zum Meer hinunter. Er verstaute das Gepäck unter der Sitzbank des Bootes, prüfte mit kritischem Blick Seegang und Wetter (beide boten keinen Anlass zur Sorge), dann löste er die Leinen und sprang an Bord. Mit ein paar Ruderschlägen verließ er den winzigen Naturhafen. Er zog die Segel auf, ein paar Sekunden später schoss die Jolle vorwärts, hinaus in die Bucht. Er segelte hart am Wind, immer in Rufweite zum Ufer, die Küste glitt langsam an ihm vorbei, mit weißen Häusern und mächtigen, erdbraunen Bergen hinter einem schmalen Streifen Landes.
Er hantierte geschickt mit Pinne und Leinen. Was zu geschehen hatte, geschah mit sicheren, tausendfach eingeübten Bewegungen. Er war zu Beginn der Ferien sechzehn geworden, sein Körper war noch einmal kräftig gewachsen in diesem Jahr, zum letzten Mal vielleicht. Er fühlte sich unangreifbar in diesem Sommer, nicht nur auf seinem Boot, auch abends, wenn er durch die Straßen und Gässchen der nahe gelegenen Stadt streifte, erfüllt von der Erwartung sensationeller Erlebnisse, die er herbeisehnte und deren genauen Charakter er sich doch nicht recht vorzustellen vermochte.
Während er den Fels mit dem alten, weißen Leuchtturm umschiffte, drehte der Wind leicht nach Süden, er korrigierte die Segelstellung, wich ein paar kleineren Riffen aus, erreichte nach einigen Minuten eine abgelegene, kleine Felsbucht, sein Ziel.
Es war noch früh am Morgen. Er sprang aus der Jolle, zog sie ans Ufer. Der Kiel knirschte leise, als er das Boot über die mit Seetang bedeckten Kiesel schleifte. Ein paar Schritte vom Ufer entfernt breitete er die blaue, mit Muschelmotiven verzierte Baumwolldecke aus, die ihm Estella nach seiner Ankunft in S. vor ein paar Wochen gekauft hatte. Er schaffte das Gepäck an Land, vergrub die Feldflasche im Sand und schlüpfte aus seinen Kleidern.
Eine Zeitlang tat er nichts, er hockte auf der Decke und starrte aufs Wasser. Das Meer war von dunklem, intensivem Blau an diesem Morgen, mit weißen, tanzenden Schaumkrönchen auf den Wellen. Ein paar Möwen umkreisten einen Fischkutter, der sich von links ins Bild schob.
Als ihm langweilig zu werden begann, holte er seine Taucherbrille und den Schnorchel aus dem Rucksack. Er watete ein paar Schritte ins Wasser, dann zog er die Maske über den Kopf und presste sie fest ans Gesicht. Er schob den Schnorchel zwischen die Zähne und ließ sich, Gummigeschmack im Mund, langsam ins Wasser gleiten. Er begann das Ufer entlangzukraulen. Stille umgab ihn. Er schwamm gemächlich Richtung Westen, über bizarre Felsmuster und lose mit Steinen bedeckte Sandflächen hinweg. Silbrig glänzende Meeräschen schwänzelten über den sandigen Grund, ein paar Meter von den Steilklippen entfernt driftete eine Qualle durchs Wasser. Er schwamm näher und betrachtete den rhythmisch pulsierenden Körper des Tiers: ein glibberiges Wunder, schwebende Gelatine.
Dann lag er auf den Steinen. Die Sonne schien noch ohne Kraft, aber das würde sich ändern: In ein paar Stunden, das würde heute nicht anders sein als an den Tagen zuvor, würde ihn die Hitze unter einen der Felsvorsprünge am östlichen Ende der Bucht treiben. Er döste ein, überließ sich wirren, unscharf konturierten Träumen, die sich seiner im Halbschlaf bemächtigten.
Nach einer Weile wachte er auf. Das Paar von gestern war wieder da, ein Mann mittleren Alters und eine Frau von Ende zwanzig. Sie ließen sich einen Steinwurf von ihm entfernt im Schatten eines steil abfallenden Felsvorsprungs nieder. Die beiden waren zu Fuß aus dem Dorf herübergewandert, mit zusammengerollten Badetüchern unterm Arm und Rucksäcken, an denen sie Isomatten und tragbare Sonnenschirme festgebunden hatten. Sie unterhielten sich leise, während sie Shorts und T-Shirts ablegten. Der Mann hatte graue, halblange Haare, sein Körper war braungebrannt und trainiert wie der eines Sportlers. Er bewegte sich mit eleganter Lässigkeit. Die Frau war um einiges kleiner als er, sie hatte schwarzes, zu einem Bubikopf geschnittenes Haar und war von zierlicher, fast noch mädchenhafter Statur. Sie faltete ihre Kleidungsstücke zusammen und legte sich neben den Mann auf eines der großen, rechteckigen Badetücher, die sie über die Isomatten gebreitet hatten. Dann nahm sie ein abgegriffenes Taschenbuch aus ihrem Rucksack, setzte eine Sonnenbrille auf und begann zu lesen.
Der Junge wartete ein paar Minuten, dann packte er sein Angelzeug zusammen und kletterte auf den Felsblock am Ende der Bucht. Behutsam öffnete er die Plastikbox mit den Ringelwürmern, er befestigte Blei und Korkenschwimmer an der Schnur, spießte einen der Würmer auf den Haken und warf den Köder ins Wasser. Eine halbe Stunde fischte er ohne Glück. Während der Schwimmer bewegungslos auf den Wellen trieb, beobachtete er das Paar aus der Ferne. Der Mann und die Frau gingen ins Wasser, schon zum zweiten oder dritten Mal. Der Wind trug ihr Gelächter an sein Ohr. Er sah, wie sie nebeneinander her schwimmend ein paar Tempi machten, dann ließen sie sich von der Brandung zurück ans Ufer werfen. Sie standen sich im hüfthohen Wasser gegenüber, der Mann schlang die Hände um die Schultern der Frau. Sie warf den Kopf nach hinten, er drückte ihr ein paar Küsse auf den Hals und die Kehle.
Der Junge bemerkte ein sachtes Zupfen am Schwimmer. Er wollte ein paar Sekunden warten, bevor er die Rutenspitze nach hinten schnellen ließ. Das Zupfen hörte auf: Der Fisch hatte den Köder offenbar nur angeknabbert.
Wieder spähte der Junge zu den Fremden hinüber. Die Frau schwamm jetzt allein in Richtung Klippen. Der Mann watete ans Ufer und trocknete sich mit einem Handtuch ab. Dann legte er sich in die Sonne. Nach einer Weile kam auch die Frau ans Ufer zurück, sie beugte sich über ihren Begleiter, neigte den Kopf zur Seite und wrang etwas Wasser aus ihren Haaren. Der Mann protestierte, als das Wasser auf seinen Rücken tropfte, er drehte sich um und fluchte leise, während sich die Frau, nass wie sie war, neben ihn aufs Badetuch legte.
Der Junge konzentrierte sich wieder aufs Angeln, aber irgendwie klappte es nicht. Er fing nicht mehr als zwei, drei kleinen Barsche und einen Stichling. An solchen Tagen machte es keinen Spaß...
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