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ISBN: 978-3-7076-0645-4
Seiten: 404
Ausstattung: Hardcover SU
Format: 12,5 x 19 cm

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ISBN: 978-3-7076-0646-1
Seiten: 404
Format: ePub

Edelweiß

Die Geschichte einer Desertion

An einem frostklaren Januartag des Jahres 1945 trat Friedrich Mahr in der Nähe der elsässischen Ortschaft R. zu den Amerikanern über. Die Panzerschlacht im Hagenauer Forst war mit dem überstürzten Rückzug der deutschen Verbände zu Ende gegangen, Mahr nützte das Durcheinander der abebbenden Kampfhandlungen, um sich unbemerkt von den letzten, versprengten Resten seiner Einheit zurückfallen zu lassen. Er schlug sich ins winterkahle Buschwerk und kauerte, zitternd vor Anspannung und Kälte, am Rand eines vereisten Geschützkraters, bis sich der Gefechtslärm in Richtung B. hinunter verlagert hatte. Als das Trommeln der Artilleriegeschütze nur noch als fernes Gedröhn zu hören war, kroch er aus seinem Versteck und arbeitete sich, zwischen Panzerwracks und schwelenden Baumstümpfen Deckung suchend, einen halben oder dreiviertel Kilometer westwärts. In der Nähe eines von Geschosseinschlägen zerfetzten Jungwalds watete er durch einen halbgefrorenen Bach, fluchend, weil ihm das Wasser schmatzend über die Stiefelschäfte schwappte. Als er nach einigen Schritten wieder festen Boden unter den Füßen gewann, kletterte er über die Böschung und schlug sich durch das Unterholz mehrere hundert Meter in Richtung Hinterland durch. Als er hinter sich Stimmen hörte, Kommandos und Flüche – Himmel noch mal, was für ein Sauhaufen ... Mensch, halt die Fresse –, warf er sich in eine Mulde und presste seinen Körper gegen den hartgefrorenen Waldboden.
Wenig später, es hatte bereits zu dämmern begonnen, robbte er aus seinem Versteck hervor. Mit kältesteifen Gliedern stolperte er über den harschigen Schnee in Richtung Westen, bis er sich am Rande einer Fichtenschonung einer amerikanischen Patrouille gegenübersah. Er warf das Gewehr zu Boden und hob – „I surrender“ – die Hände über den Kopf.

Auf der Ladefläche eines von schneidenden Böen umwehten Dodge wurde er, von zwei GIs bewacht, ins frontnahe Kriegsgefangenenlager 455 gebracht, einen zitadellenartigen Komplex aus der Zeit Napoleons III., den die Wehrmacht bis vor kurzem noch als Infanterie-Garnison genutzt hatte. Es handelte sich um eine gewaltige Kasernenanlage mit unterirdischen Bunkern und Magazinen, bombensicheren Kasematten, einem halben Dutzend Mannschaftsgebäuden und einigen kleineren Wohngebäuden für die Offiziere. Zur Zeit waren hier fünfzehntausend deutsche Kriegsgefangene untergebracht.
Vom ersten Tag seiner Einberufung an hatte Mahr mit dem Gedanken an Fahnenflucht gespielt. Das sagte er auch den beiden Offizieren, die ihm in einem spartanisch eingerichteten, von einem bullernden Koksofen beheizten Vernehmungszimmer gegenübersaßen. Mahrs Mantel dampfte, als er das Soldbuch über den Vernehmungstisch schob.
Zunächst fragten sie ihn in Sachen Ausrüstung und Kampfkraft seiner Truppe aus, auch für die deutsche Nachschublage interessierten sie sich. Zu guter Letzt – da dauerte das Verhör schon eine oder eineinhalb Stunden –, wechselten sie zum Thema Politik über, um ihm auch diesbezüglich auf den Zahn zu fühlen.
Er lehne den Nationalsozialismus aus weltanschaulichen Gründen ab, erklärte Mahr in sachlichen Worten, er stamme aus antifaschistischem Elternhaus und habe sich in seiner Heimatstadt Wien, solange das ohne Gefahr für Leib und Leben möglich gewesen war, in der Jugendbewegung der „Revolutionären Sozialisten“ engagiert.
 „Sie sind aus politischen Gründen desertiert?“ fragte einer der beiden Offiziere. Mahr warf ihm einen erstaunten Blick zu: Der Mann – ein Captain mit melancholischen, von schlaffen Tränensäcken akzentuierten Gesichtszügen – sprach Deutsch mit schwäbischem oder badischem Akzent, so genau konnte Mahr das nicht auseinanderhalten. Ein Emigrant also, ein Flüchtling aus Nazi-Deutschland. Kein Amerikaner aus Illinois oder Nebraska hätte auf diese Weise Deutsch gesprochen.
Mahr nickte. Ja, das könnte man sagen: Für seine Desertion seien politische Gründe maßgeblich gewesen.
Der zweite Mann, ein Staff Sergeant mit rötlichblondem Haar, blätterte mit routiniertem Interesse in Mahrs Soldbuch. Er studierte die Einträge, die das militärische Wirken des Wehrmachtsangehörigen Friedrich Mahr in den letzten dreizehn Monate dokumentierten. Im Umschlag steckten einige Lebensmittelmarken und mehrere Fotografien. Der Staff Sergeant nahm die Bilder zur Hand und betrachtete sie. „Wer ist das?“ fragte er, auf das Porträt eines alten, weißhaarigen Mannes zeigend, der in einem Anzug aus robustem Tweed hinter einem ausladenden Schreibtisch saß und in das Studium eines Folianten vertieft war.
„Mein Vater.“
„Und die beiden?“ Der Staff Sergeant warf ein hochformatiges Schwarz-Weiß-Foto mit gezackten Rändern auf den Tisch. Die Aufnahme zeigte ein lachendes Paar, Mann und Frau, junge Leute in Skipullovern, Arm in Arm vor einer verschneiten Berghütte stehend.
„Das Foto habe ich geknipst“, sagte Mahr. „Das sind meine Geschwister, Victor und Hilde. Victor ist im Sommer ’42 im Osten gefallen.“
„Tut mir leid, das zu hören“, sagte der sommersprossige Staff Sergeant. Mahr glaubte einen sarkastischen Unterton herauszuhören, aber vielleicht irrte er sich. Der Staff Sergeant steckte die Fotografien zurück in den Umschlag.
„Sie möchten also in die Armee der Vereinigten Staaten eintreten?“ sagte der Captain, während er sich von seinem Kameraden das Soldbuch hinüberreichen ließ.
„Ja.“
„In diesem Fall können wir nicht viel für Sie tun. Gemäß der Genfer Konvention ist es uns nicht erlaubt, solche Verhandlungen mit Ihnen zu führen und Sie in amerikanischer Uniform wieder ins Feld zu schicken, das wissen Sie?“
„Ich denke schon, Sir, ja, das ist mir bekannt.“
Der Captain blätterte das Soldbuch durch. „Sollten Sie allerdings darauf bestehen, gegen Hitler zu kämpfen, gibt es vielleicht ... doch eine Möglichkeit.“ Der Captain klappte das Soldbuch zu und warf es mit einer nachlässigen Gebärde auf den Tisch.
„Was für eine Möglichkeit wäre das, wenn ich fragen darf, Sir?“
Der Captain beugte sich zum Staff Sergeant hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Staff Sergeant nickte.
„Die Siebte Armee“, erklärte der Captain, „hat in ihren Reihen ein besonderes Detachment. Ich will da jetzt nicht allzu sehr ins Detail gehen. Gut möglich, dass die Jungs dort Verwendung für Sie haben.“
„Das wäre großartig“, sagte Mahr. „Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie da etwas in die Wege leiten könnten.“
„Wir werden sehen, was sich machen lässt. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen, Herr Gefreiter.“

Zwei Tage später wurde er erneut zum Verhör geholt. Diesmal behandelten ihn die Offiziere etwas zuvorkommender als bei der ersten Einvernahme. Sie boten ihm Zigaretten an und fragten ihn dies und das – ein vorsichtiges Abtasten, so kam es Mahr vor.
„Aus welchem Grund wollen Sie für die amerikanischen Streitkräfte arbeiten“, fragte der Captain.
Er habe bereits seit dem sogenannten Anschluss den Wunsch, erklärte Mahr, an der Befreiung seiner Heimat vom Hitlerfaschismus mitzuwirken. Seit er sich erinnern könne, sei seine Familie gegen die faschistische Gefahr eingetreten, gegen den grünen Faschismus der österreichischen Heimwehren ebenso wie gegen den Faschismus Hitlers und Mussolinis. Das hänge auch mit der parteipolitischen Orientierung seiner Familie zusammen. Sein Vater sei zwischen 1921 und 1934 offizieller Rechtsvertreter der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs gewesen, Parteianwalt, wenn man so wolle, einer von dreien, er habe mehrere vielbeachtete Prozesse geführt und grundlegende, auch in internationalen Zeitschriften diskutierte Arbeiten zu rechtswissenschaftlichen Problemstellungen publiziert, vor allem zu Fragen des Verfassungsrechts. Älteren Juristen sei der Name Rudolf Mahr auch außerhalb des Deutschen Reichs bis heute ein Begriff, obwohl sein Vater von den Nazis unmittelbar nach dem Anschluss mit einem strengen Berufsverbot belegt worden war. Man könnte gern Erkundigungen einziehen, falls die Herren seine Angaben in Zweifel ziehen würden.
Die Offiziere schienen von Mahrs Ausführungen nicht weiter beeindruckt. „Darf ich einmal Ihre Erkennungsmarke sehen?“ fragte der Staff Sergeant. Sein Deutsch war ausgezeichnet, obwohl sein Akzent, im Gegensatz zu dem des Captains, einen leichten Yankee-Einschlag aufwies. In den kommenden Wochen sollte es Mahr so gut wie ausschließlich mit Amerikanern zu tun bekommen, die perfekt oder annähernd perfekt Deutsch sprachen, offenbar hatte die Army keine Probleme, einschlägig ausgebildete Leute zu rekrutieren.
Mahr nahm die Kette mit der Erkennungsmarke vom Hals und reichte sie über den Tisch.
„Eure Erkennungsmarken sind praktischer als unsere“, brummte der Staff Sergeant, während er die eingestanzten Angaben auf dem blechernen Oval mit denen im Soldbuch verglich.
„Wie meinen Sie das?“
„Sie lassen sich in zwei Teile brechen. Genial.“
„Ach, das meinen Sie.“
Der Offizier untersuchte Mahrs Marke.
„Wirklich ausgesprochen praktisch. Wenn Sie gefallen wären, Herr Gefreiter, hätte man die eine Hälfte nach Hause geschickt, und die andere hätte man zusammen mit Ihnen irgendwo begraben. Intelligenteres Modell als unseres, viel intelligenter. Wir müssen zwei Marken tragen ... Wenigstens in dem Punkt seid Ihr uns voraus.“
Er gab Mahr die Marke zurück.
„Sie sind also Angehöriger des 35. Panzergrenadier-Regiments“, sagte der Captain. „Wo genau waren Sie während der letzten Monate im Einsatz?“
„Bis November in der Saarpfalz, Maginotlinie, dann an der Vogesenfront ... Steht das nicht ohnehin alles im Soldbuch?“
„Wir stellen hier die Fragen“, knurrte der Captain.
Mahr presste die Lippen zusammen.
„Warum sind Sie nicht früher auf die Idee gekommen, die Seiten zu wechseln?“
„Weil sich keine Gelegenheit dazu ergeben hat.“
Sie konfrontierten ihn mit einer Reihe weiterer Fragen, die Mahr so präzise wie möglich beantwortete, dann wurde er zurück in den Fünfundzwanzig-Mann-Schlafsaal gebracht, in dem man ihn unmittelbar nach seiner Einlieferung untergebracht hatte. Bevor ihn ein riesenhafter Private aus dem Verhörzimmer eskortierte, gab ihm der Captain noch einen Rat mit auf den Weg: Er sollte den anderen Gefangenen nichts von seiner Desertion erzählen, sofern ihm sein Leben lieb sei. Erst letzte Woche seien zwei Fahnenflüchtige aus dem Rheinland von ihren Kameraden wegen „Feigheit vor dem Feind“ exekutiert – besser gesagt: zu Tode geprügelt – worden. Der amerikanische Lagerkommandant habe nach diesem Vorfall zwar hart durchgegriffen, aber man könnte nicht ausschließen, dass sich Geschehnisse dieser Art wiederholten.
Mahr beschloss, sich an den Ratschlag zu halten.

Auszug aus Günter Wels' Roman „Edelweiß“, erschienen im Czernin-Verlag, Wien, 2018



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